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Mit der Zombie-Pianistin in die Ohnmachtswelt

Allerorten Fremdheit zwischen Traum und Wahn: Dominique Schnizer bringt in Osnabrück eine beeindruckend konsequente „Kafka“-Collage auf die Bühne

Eine leidvolle Seelenschau, die zugleich eine Anklage gesellschaftlicher Kälte ist

Von Harff-Peter Schönherr

Ein nackter Advokat, der in einem Aktenberg lebt. Eine zombiehafte Pianistin, die auch auf Türen und Tischen spielt. Ein stummer, pelzmantelzottiger Wächter mit stahlblau-toten Augen, dessen Nase fast genauso monströs ist wie sein Schnurrbart. Ein seniler Versicherungsdirektor, der nur noch hustet statt zu sprechen.

Surreal ist er, der Blick in die Hölle. Und je länger er dauert, desto surrealer wird er. Irres Lachen bricht los. Jeder redet am anderen vorbei. Möbel verschwinden und tauchen wieder auf. Textfetzen knistern aus dem Off, wie gesprungene Schallplatten, die sich auf ewig wiederholen. Jemand kommt am Morgen ins Büro, nur um gleich wieder zu gehen, denn die Stunden zerschmelzen zu Sekunden. Jemand isst Papier. In einer Vitrine sitzt eine verstümmelte Puppe.

Die Konsequenz, mit der Regisseur Dominique Schnizer seinen „Kafka“ in die Verstörung treibt, ins Erratische, ist mutig. Und sein Mut zahlt sich aus: Eine beklemmende Ohnmachtswelt graudüsterer Farb­losigkeit tritt uns entgegen, eine abweisende Welt der Bedrohlichkeit und Hoffnungsferne, der Groteske und Absurdität.

So symbolistisch Christin Treunerts labyrinthisches Bühnenbild ist, das an uns vorüberrotiert, teils in jäher Hektik, so symbolistisch ist Schnizers Durchmischung von Kafkas Biografie und Kafkas Figuren. Sein Kafka, hilflos aufbegehrend gegen einen Prozess ohne Anklage, gegen eine Verhaftung ohne Haft, endet in einem foltergleichen Dämmerzustand aus Traum und Wahn. Eine leidvolle Seelenschau, die zugleich eine Anklage gesellschaftlicher Kälte ist.

Eine starke Optik, eine starke Regie und eine starke Ensembleleistung: Totenbleich taumelt Philippe Thelen, die schwere Titelrolle souverän meisternd, durch ausweglose Gänge und Räume, vorbei an Gestalten, die wie eingefroren sitzen, die lautlos schreien, die plötzlich jemand anderes sind als noch wenige Augenblicke zuvor. Fremdheit, allerorten.

Schnizer geht Wagnisse ein. Er collagiert seine Motive und Figuren, seine Settings und Dialoge, aus einer inhomogenen Vielzahl an Kafka-Texten, Klassiker wie „Die Verwandlung“ inklusive. Und trotz des allgegenwärtigen Psychoterrors blitzt Komik auf. Aber diese Wagnisse sind ein Gewinn.

Vieles ist hier ein Gewinn. Dass die Kostüme auf den Anfang des 20. Jahrhunderts verweisen, ist nicht zu historistisch. Dass die Magiker der Lichtregie Teile der Bühne zeitweise aussehen lassen, als seien sie schräge Ebenen, ist nicht zu manieriert.

Einzig Ernst Becherts Musik-Einsprengsel tun dem Ganzen keinen Gefallen. Gut, sie wagen den Kontrast zwischen schwelgerischer Romantik und Industriegeräuschen. Und sie nehmen, lesen wir im Programmheft, „künstlerische Neuerungen der Zeit“ auf, der Zeit der sterbenden Monarchien nach dem Ersten Weltkrieg, und auch von „atonalen (Zwölfton-) und mikrotonalen (Viertelton-)Kompositionen“ ist da die Rede, als wüsste jeder, was das ist.

Aber Becherts Soundtrack, vom Maschinenherzschlag bis zum Glockenspiel, vertieft Schnizers Thrill nicht. Mehr noch: Die Darsteller, obwohl mit Mikroports verkabelt, haben es schwer gegen ihn.

Kafka, der große Rätselhafte? Wer Schnizers Adaption gesehen hat, weiß: Rätsel lassen sich lösen.

„Kafka“: Di, 29. 10., Osnabrück, Theater am Domhof. Weitere Termine: 10. 11., 15. 11, 24. 11.

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