Endspiel am offenen Grab

Durchchoreografiertes Drunter und Drüber: Tatjana Gürbaca inszeniert einen atemberaubenden „Don Giovanni“ am Theater Bremen

Von Joachim Lange

Tatjana Gürbaca hat in Bremen schon vier Mal inszeniert. Jetzt war die Oper der Opern dran. Ihr „Don Giovanni“ von Mozart ist wie die sprichwörtliche Kerze, die von beiden Seiten aus brennt. Samt Faszination und Verletzungsgefahr. Besonders für die Frauen. Wir erleben das als ein fast Beckett’sches Endspiel am offenen Grab.

Klaus Grünberg hat das Grab für diese packend psychologisierende Inszenierung, die immer eine Handbreit neben oder über einem realistisch nacherzählten Geschehen schwebt, in einer gespenstisch surrealen ­Gegend vorne an der Rampe ausgehoben. Auf einem Feld durchzogen von einer Straße, die vor einem gebogenen Horizont in ein Irgendwo führt. Vielleicht in die wirkliche, gesittete, von Regeln, Form und Selbstbeherrschung gezügelte Welt. Vielleicht aber auch in die der Enthemmung und Maßlosigkeit, der Grenzüberschreitung, der anarchisch selbstzerstörerischen Libertà, die Don Giovanni hochleben lässt. Mit einem ahnungsvollen Furor, wie ihn vorrevolutionäre Zeiten befeuern. Abseits dieser Straße ist die Erde schwarz und von ebenso schwarzen Kohlköpfen übersät. Zum großen Mahl mit dem Komtur ist einer dieser Kohlköpfe der Hauptgang. Und die Vorspeise. Don Giovanni muss sich da längst auch gegen den Verfall seines Körpers aufbäumen. Vielsagend blutbeschmiert in der Herzgegend. Mit Schorf an den Beinen. Sein Gesicht im Verfall begriffen.

Zwar bewegen wir uns von Anfang an im doppelten Wortsinn am Rande des Grabes, aber hier läuft vor allem das Leben von Don Giovanni spürbar auf den Tod hinaus. Er steht im Bann seiner Lebens(neu)gier und in dem des offenen Grabes. Oft im direkten Blickkontakt mit dem Komtur (Loren Lang), der nach dem tödlichen Messerstich am Anfang dahinein verfrachtet wurde. Wenn der immer mal wieder dem Grab entsteigt und auf das schaut, was so passiert, dann ist er der Anwalt eines Jenseits, vor dem zumindest Don Giovanni keine Furcht hat.

Weißes Pulver für die Gäste

Bei der Orgie am Ende des ersten Akts lassen sich selbst die drei zur tätigen Rache Entschlossenen (Anna, Elvira und Ottavio) zunächst von der Enthemmung anstecken, die Leporello mit großzügig unter die Gäste geworfenem weißen Pulver befördert hat. Die drei kommen sogar ohne Masken. Ihre Tarnung ist die im Gänsemarsch anrückende Masse, in die sie sich einreihen. Erst Leporello verpasst ihnen Versatzstücke einer Maskierung, damit sie ihre Rolle spielen können.

In all der Enthemmung und dem faszinierend durchchoreografierten Drunter und Drüber fragt man sich, ob sie diese Rache wirklich wollen. Dass Donna Elvira einen einigermaßen klaren Kopf bewahrt, liegt vor allem daran, dass sie hochschwanger ist. Schon bei ihrem ersten Auftritt hatte sie sich übergeben. Und Don Giovanni hatte das parodiert. Mitfühlender werdender Vater geht anders. Am Ende wird Donna Elvira (mit selbstbewusster Vehemenz: Patricia Andress) das Neugeborene Zerlina in die Hand drücken und Richtung Publikum verkünden, dass sie ins Kloster gehen werde. Was sie aber wohl selbst nicht glaubt.

Vor allem Donna Anna ist und bleibt Don Giovanni verfallen. Mima Millo singt und spielt das großartig. Am Anfang macht sie das (Liebes-)Spiel des Begehrens mit verbunden Augen, aber mit klarem Blick, mit freiwilliger Neugier mit. Wenn der Vater auftaucht, ist sie nicht über den Verführer entsetzt, sondern darüber, erwischt worden zu sein. Am Ende, wenn alle Hinterlassenschaften Don Giovannis in eine Mülltüte wandern, sichert sie sich dessen apartes Stachel-Halsband. Ihr Zukünftiger, Ottavio (Hyojong Kim), im karierten Anzug, ein Mann, der sogar Zeitung liest, hat in dieser Welt des aufflackernden Unbewussten bei ihr eh keine Chance. Er ist von ihren Rollenklischees ebenso überfordert wie Massetto (Stephen Clark), dem Zerlina (KaEun Kim) nur einen Kleiderbügel und ihr Hinterteil mit der Aufforderung, sie zu bestrafen, hinhalten muss, um ihn mattzusetzen.

Sie sehen alle ziemlich mittelmäßig gegen Don Giovanni aus. Der gibt den permanenten Sucher nach der nächsten Grenzüberschreitung. Mal harmlos in Weiß, mal im imponierenden roten Pelz des Edelmannes, mal als urmenschlicher respektive urmännlicher Jäger, der mit der Keule rumfuchtelt und dann als Gezeichneter, bei lebendigem Leib Verfallender (Kostüme: Silke Willrett). Die Rückhaltlosigkeit, mit der sich Birger Radde auf diesen Selbsterfahrungstripp begibt, fasziniert genauso wie die durchgängige kraftvolle Eleganz seiner verführerischen Stimme. Leporello (Christoph Heinrich) ist so symbiotisch auf seinen Herrn fixiert, dass er den Verstand zu verliefen droht, als der stirbt. Hartmut Keil am Pult der Bremer Philharmoniker und der Chor des Hauses runden diesen atemberaubenden Abend zu einem Gesamtkunstwerk mit anhaltender Nachwirkung!