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Ungleich chancenloser

Der indigene Präsident von Bolivien, Evo Morales, verspricht Bildung für alle, insbesondere für indigene Mädchen und Jungen. Doch ihre Schulen sind häufig schlecht ausgestattet, und die Geschichtsschreibung ist noch immer die der spanischen Kolonialisten

Von Knut Henkel

Joselyn Mamani zieht ein Buch aus der Tasche, stößt ihren Tischnachbarn Iván Roddy Catacora an und schiebt es ihm rüber. „Hier, musst du mal lesen“, sagt die 18-jährige Schülerin aus El Alto: „Das ist die Geschichte Boliviens – nicht aus spanischer, sondern aus unsere Perspektive.“ Sie interessiert sich für die Geschichte ihres Heimatlandes Bolivien. Sie ist genervt, dass in den Schulbüchern trotz aller Reformen der vergangenen Jahre die Spanier viel präsenter sind als die Völker, die sie kolonialisierten. Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Aymara, der Quetchua oder Guaraní, drei der offiziell 35 Ethnien, die im plurinationalen Staat Bolivien leben, gibt es nicht. Ein Widerspruch, denn „Descolonización“, so viel wie die Dekolonialisierung, steht seit dem Amtsantritt des ersten indigenen Präsidenten, Evo Morales, offiziell hoch im Kurs. Inklusion der indigenen Bevölkerung ist nicht nur im Bildungssystem Programm und hat Bolivien verändert. „Wir sind aufgewacht, erheben unsere Stimme, und indigene Frauen und Männer sitzen in Ministerien, leiten Staatsbetriebe und tragen ihre traditionelle Kleidung, ohne diskriminiert zu werden“, meint die Schülerin und streicht sich eine Strähne des bläulich schimmernden, schwarzen Haares aus der Stirn. „Da haben Evo und sein Beispiel einiges bewirkt.“

Bildungsreform in Bolivien

Alphabetisierung Bildung stand 2006 ganz oben auf der Agenda der Regierung von Evo Morales. Eine der ersten Maßnahmen war eine Alphabetisierungskampagne, mit der die Analphabetenquote laut Evo Morales auf 2,7 Prozent (2018) gesenkt wurde. Seit 2010 wird Bildung als Grundrecht definiert. Damals wurde auch die Schulpflicht bis zum Bachillerato, vergleichbar mit dem Abitur, eingeführt.

Inklusion Die Bildungsreform setzt auf die Teilhabe indigener Schüler*innen. So werden die 37 Sprachen, die im plurinationalen Staat Bolivien gesprochen werden, im Unterricht angewendet.

Bildungsetat Über 22 Milliarden Bolivianos, umgerechnet knapp 3 Milliarden Euro, hat der Staat 2017 für Bildung sowie den Bau und die Renovierung von Schulen ausgegeben. Davon werden 164.000 Pädagogen bezahlt, die rund 2.876.000 Schüler von der Primarschule bis zur Universität betreuen.

Für sie ist das aber noch nicht genug. Im Unterricht in der nicht weit entfernten Schule „Los Angeles“ wird zwar die jüngere Geschichte rund um den ersten indigenen Präsidenten, eben Evo Morales, der sich nach der Präsidentschaftswahl am vergangenen Wochenende in einer Stichwahl gegen den wirtschaftsfreundlicheren Rivalen Carlos Mesa durchsetzen muss, großgeschrieben. Aber die Kolonialgeschichte Boliviens aus indigener Perspektive neu zu schreiben, darauf sind die Verantwortlichen im Bildungsministerium noch nicht gekommen. Ein Defizit für die junge Frau, die genau weiß, was sie will: Medizin studieren und sich einmischen, vielleicht auch in der Politik.

Sie ist eine von sechs Schüle­r*in­nen, die nach dem Unterricht oft in der Casa de la Solidaridad rumhängen, Hausaufgaben machen, diskutieren, lesen, Theater spielen. Das winzige Kulturzentrum ist der einzige Anlaufpunkt für die Jugendlichen aus Villa Paulina, einem der Randbezirke von El Alto. Die am schnellsten wachsende Stadt Boliviens liegt auf einem Hochplateau über La Paz und galt lange als gefährliche Indio-Enklave. Als Schlafstadt entstanden, ist El Alto heute eine wichtige Handelsdrehscheibe mit etlichen Produktionsbetrieben. Quasi ein Beleg für den indigenen Aufstieg, der mit der Wahl von Morales zum Präsidenten einhergeht. Auf den sind die sechs Schüler zwischen 14 und 18 Jahren, die am Tisch der Casa de la Solidaridad sitzen, stolz.

Doch das gilt nicht unbedingt für das öffentliche, unentgeltliche Bildungssystem, das unter der Regie der Regierung umgebaut wurde und in das viel Geld investiert wird: „Unsere Schule ist zwar erst vor ein paar Jahren gebaut worden, aber sie ist schlecht ausgestattet“, kritisiert Iván, der eine Vorliebe für Naturwissenschaften hat. „Wir haben kein Versuchslabor, müssen uns mit der Theorie begnügen. Physik, Chemie und Mathematik haben nicht unbedingt Priorität. Dabei wäre das für uns als rohstoffreiches Land mehr als sinnvoll“, ärgert sich der 15-Jährige.

Viele Jugendliche halten sich mit Taxifahren über Wasser

Er träumt davon, einmal im Lithiumsektor des Landes zu arbeiten, ein Zukunftsprojekt Boliviens, das sich noch im Aufbau befindet. Schon deswegen wäre es aus seiner Sicht nur logisch, den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich stärker zu fördern. Doch da hinkt Bolivien den eigenen Ansprüchen hinterher, gibt der Pädagoge Joel Ibarra Batallanos zu. „Es ist viel in die Infrastruktur, in Gebäude, Sportplätze investiert worden. Nun müsste mehr in die Köpfe fließen“, sagt er.

Bolivien will den Anschluss an die Industrieländer herstellen, so hat es Präsident Morales wiederholt formuliert. Doch die Realität sieht in der Schule „Los Angeles“ von Joselyn Mamani anders aus. Dafür macht sie auch die Politik verantwortlich, die oft nach politischen Kriterien entscheide. Von Lehrern, die – obgleich qualifiziert – gehen müssen, weil sie nicht das Parteibuch der MAS vorweisen können, der Bewegung zum Sozialismus von Morales. „Das drückt aufs Niveau und auf die Motivation“, sagt Batallanos, der bei einer Nichtregierungsorganisation in der Jugendarbeit in El Alto tätig ist. Die beschäftigt sich mit Prävention, Geschlechterverhältnissen und den Zukunftsperspektiven von Jugendlichen. Viele Jugendliche müssen sich trotz eines abgeschlossenen Studiums mit Taxifahren und windigen Geschäften über Wasser halten. Oder sie gehen ins Ausland. „Jemand aus El Alto hat nicht die gleichen Chancen wie jemand aus dem Süden von La Paz“, kritisiert er.

Das wissen auch die sechs Jugendlichen in der Casa de la Solidaridad. Für Joselyn ist klar, dass die Universität von El Alto einen schlechteren Ruf hat als die UMSA, die Universität Mayor San Andrés, unten in La Paz. Sie will sich aber ohnehin für ein Auslandsstipendium bewerben. Das macht die Eltern stolz. Ihre Mutter, eine einfache Frau, die im traditionellen Faltenrock, dem bunten Umhängetuch und mit dem Bombín auf dem Kopf im quirligen El Alto unterwegs ist, schmeißt den Haushalt, während der Vater als Taxifahrer das Geld verdient. Beide haben sich stark um die Bildung ihrer Tochter gekümmert. Auch die Schulen selbst haben ein Interesse an breiter Bildung. So sollen die Schulen stärker im Stadtteil vernetzt sein, Eltern, Schüler und Lehrer gemeinsam an einem Strang ziehen.

Doch das finden nicht alle Eltern gut. Eltern, die selbst mit stumpfen Frontalunterricht aufgewachsen sind, kritisieren nicht selten moderne Unterrichtsformen und Lehrinhalte. Diese Erwachsenen sorgen mit dafür, dass die 2010 per Gesetz verordnete Bildungsreformen nicht in jedem Fall durchschlagen. Blockaden, die die Jugendlichen nur zu gern beseitigt sehen würden. Doch allzu viel Hoffnung haben sie mit Morales im Präsidentenpalast nicht. „Die nächste Generation hat kaum einer der Kandidaten für die Präsidentschaft auf dem Zettel“, stöhnt Iván. „Wir brauchen einen Qualitätsschub, um hier oder im Ausland eine Chance zu haben.“ Dahin werden die Kreativen ohnehin schon abgeworben. Das macht Bildungsexperten wie Batallanos oder Marío Rodriguez Sorgen.

Rodriguez bescheinigt den Verantwortlichen zwar Erfolge, moniert aber, dass sich Bolivien als eines der wenigen Länder der Region nicht am Pisa-Test beteiligt. „Wie wollen wir unsere Fortschritte denn messen?“, fragt sich der Pädagoge, der sein Geld mit der Beratung von Schulen verdient. Für ihn ist es an der Zeit, die Qualität in den Bildungseinrichtungen des Staates deutlich zu steigern. Genau das erwarten die Sechs in der Casa de la Solidaridad von der nächsten Regierung. Egal, ob der Präsident dann Evo Morales oder Carlos Mesa heißt.

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