: Der schmale Grad inmitten der Gewalt
Nach den Gewaltorgien in Barcelona bildeten friedliche Demonstranten Menschenketten. Sie wollten Zusammenstöße gewaltbereiter Demonstranten mit der Polizei verhindern
Aus Barcelona Reiner Wandler
Das ist neu. Am Samstag stellten sich erstmals Menschenketten friedlicher Befürworter der Unabhängigkeit Kataloniens in Barcelona zwischen Polizei und junge Demonstranten. „Wir sind Menschen des Friedens“ stand auf den Schildern, die einige von ihnen in die Höhe hielten. Die Proteste richteten sich erneut gegen die Verurteilung von neun Unabhängigkeitspolitikern und -aktivisten wegen „Aufstand“ in Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum vom Oktober 2017 zu 9 bis 13 Jahren Haft.
Die Kette zwischen Kundgebung und Polizei wurde von Anhängern der großen Unabhängigkeitsorganisationen wie der Katalanischen Nationalversammlung (ANC) und der Kulturvereinigung Òmnium organisiert. Sie verhinderten damit – bis auf kleinere Scharmützel in den späten Abendstunden –, dass es auf einer Kundgebung in der Innenstadt zu erneuten Straßenschlachten kam. „Sie repräsentieren uns nicht!“, hatten sich die Verurteilten sowie unzählige Politiker und Aktivisten aus der Unabhängigkeitsbewegung in den vergangenen Tagen von den gewalttätigen Ausschreitungen distanziert. Auch die katalanische Regierung schloss sich dem an.
Die Menschenketten waren die Antwort auf Zwischenfälle am Freitagabend, als die Gewalt einen Höhepunkt erreichte. Dabei begann es ganz friedlich. Am Nachmittag trafen fünf Sternmärsche aus ganz Katalonien in Barcelona ein. Zur Abschlusskundgebung kamen – laut Stadtpolizei – 525.000 Menschen. Die Stimmung war fröhlich. Junge, Ältere, ganze Familien mit Kindern sind gekommen. Wären nicht hier und da die Brandflecken auf dem Asphalt, würde nichts darauf schließen lassen, dass es seit der Urteilsverkündung am vergangenen Montag immer wieder zu Ausschreitungen gekommen war. „Wir setzten uns für unsere Rechte und Freiheiten ein“, sagte Pilar Boneo, die über 30 Kilometer mitgelaufen war. „Freiheit für die politischen Gefangenen!“ und „Unabhängigkeit!“, rief die Menge immer wieder.
Eine schnelle Lösung des Problems sehe ich nicht, aber wir machen weiter“, sagte Boneo, die nur einen Wunsch hat: „Dass es heute friedlich bleibt“. Die Umstehenden stimmten der 49-jährigen Angestellten zu. Doch sie sollten sich alle enttäuscht sehen. Noch während der Kundgebung zog eine Gruppe junger Menschen vor das hoch abgesicherte Kommissariat der spanischen Nationalpolizei.
Was mit Beleidigungen und Würfen von Eiern begann, endete nach dem Ausrücken der Sondereinsatzkräfte in einer Straßenschlacht. Brennende Barrikaden bestimmten einmal mehr das Bild. Die Nationalpolizei knüppelte und schoss mit denen in Katalonien eigentlich verbotenen Gummigeschossen. Ihre katalanischen Kollegen von den Mossos d’Esquadra griffen zu einem Ersatz aus hartem Schaumstoff.
Auch Unbeteiligte wurden verprügelt. So macht ein Video von einem Anwohner die Runde, der einen Mülleimer löschen wollte. Ein Mannschaftswagen hält. Die Beamten stürmen heraus und stürzen sich knüppelnd auf den älteren Herrn.
Die Polizei nahm mehrere Dutzend meist sehr junge Demonstranten fest, darunter auch einen Fotografen der größten spanischen Tageszeitung, El País. Er hatte festgehalten, wie ein Demonstrant brutal festgenommen wurde. Videos seiner Kollegen zeigen, wie der mittlerweile wieder freigelassene Reporter von mehreren Polizisten brutal auf den Boden gedrückt, mit Handschellen gefesselt und weggeschleppt wird.
Journalistenverbände zählen bisher insgesamt 58 polizeiliche Übergriffe auf Reporter und Fotografen. Seit der Urteilsverkündung am Montag sind laut Innenministerium 198 Personen festgenommen worden. Der Madrider Nachrichtendienst eldiario.es berichtet von 17 Menschen in Untersuchungshaft. 38 seien wieder freigelassen worden, und der Rest warte darauf, dem Richter vorgeführt zu werden.
„Wir werden das Strafgesetzbuch mit aller Kraft anwenden“, lässt der spanische Innenminister Fernando Grande Marlaska kein Zweifel daran, dass ihnen lange Haftstrafen wegen „Verletzung der öffentlichen Ordnung“ und „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ drohen. Das katalanische Menschenrechtszentrum Iridia spricht von rund 600 Verletzten. Mindestens 4 Personen haben durch Gummigeschosse ein Auge verloren. Ein junger Mann wurde so schwer am Hoden getroffen, dass er entfernt werden musste.
Mittlerweile kam es auch außerhalb von Katalonien zu Solidaritätskundgebungen. Im baskischen San Sebastián demonstrierten am Samstag über 40.000 Menschen unter dem Motto „Freiheit für die politischen Gefangenen“.
Auch in Madrid kamen Tausende zusammen. Die Polizei löste die Kundgebung gewaltsam auf. Die Bilanz: 26 Verletzte und 12 Festnahmen. Bereits am Freitag wurde die spanische Königsfamilie in Oviedo mit „Raus!“ -Rufen empfangen, als sie im Theater eintrafen, um die Prinzessin-von-Asturien-Preise zu verleihen.
„Das kann so nicht weitergehen. Barcelona hat das nicht verdient“, erklärte die linksalternative Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau. Die Stadtverwaltung schätzt die Sachschäden an städtischem Mobiliar und Müllcontainern auf über eine Million Euro.
Alle schauen jetzt auf das nächste Wochenende. Am Samstag wird ein breites Bündnis – nicht nur aus Unabhängigkeitsbefürwortern – gegen das Urteil und für Bürgerrechte auf die Straße gehen. Am Sonntag will die von spanischen Parteien unterstützte Organisation „Katalanische Zivilgesellschaft“ für die Einheit Spaniens mobilmachen. Das Spitzenspiel der Liga, FC Barcelona gegen Real Madrid, wurde aus Sicherheitsgründen vom kommenden Samstag auf Dezember verschoben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen