: Der Zauber des Geschaffenen
Bricht ein Modell die Wirklichkeit herunter oder besitzt es eine eigene Ästhetik? Das fragt sich in der Kieler Stadtgalerie eine Ausstellung zu „Modell-Naturen“ in der Fotografie
Von Frank Keil
Etwas fehlt. Das ist auf den ersten Blick zu sehen – wenn man die Vorlage kennt. Und wer kennt es nicht, das Gemälde „Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich, als immer wieder zitiertes Symbol der gescheiterten Hoffnungen des aufstrebenden Bürgertums, wie es als Bild heute in der Hamburger Kunsthalle hängt. Der amerikanische Fotokünstler James Casebere hat das auf Friedrichs Gemälde zu betrachtende Geschehen auf drei Quadratmetern nachgebaut, samt aller aufgeworfenen Eisschollen mit ihren Zacken, Bruchkanten und Verwerfungen; hat viel Papier, Karton, Farbe und Klebstoff dafür bewegt.
Casabere hat das Modell anschließend aus verschiedenen Winkeln und Perspektiven fotografiert und dann aus 60 Einzelaufnahmen wieder das entstehen lassen, was es einst war beziehungsweise was es ist: ein Bild, ausgedacht und nach dramaturgischen Regeln durchformuliert und durchgemalt. „Sea of Ice“ ist der neue Titel, und was fehlt, das ist eben das Schiff, das bei Friedrich zur Seite gekippt und eingefroren dennoch zu sehen ist. Caseberes Arbeit dagegen bleibt frei von menschlichen Spuren – und funktioniert auch so.
„Modell-Naturen in der zeitgenössischen Fotografie“ heißt etwas ungelenk und zunächst spröde die aktuelle Ausstellung in der Kieler Stadtgalerie, in der diese und andere Arbeiten von James Casebere zu betrachten sind. Die fordern uns gleich dreifach heraus: Die Ausstellung fragt ganz schlicht, ob wir richtig schauen und ob wir mit dem richtig liegen, was wir zu erkennen glauben. Sie hinterfragt zweitens, ob nicht das Modell von etwas immer weit mehr ist, als nur der Versuch, das rätselhafte Große auf das erklär- und verstehbare Kleine herunterzubrechen, sondern es eben eine eigene Ästhetik wie Kraft mit sich trägt.
Und sie konfrontiert uns nicht zuletzt mit unseren gängigen und auch sentimentalen Natur-Bildern, die wir in uns tragen: Stehen wir auf dem Gipfel, schauen wir am Strand und blicken wir in die Fernen der Welt, geht uns stets das Herz auf. Nur warum und wieso? Und wie geht es wieder zu?
Die Ausstellung versammelt dazu 18 Positionen, die einerseits ganz unterschiedlich mit der Grundidee des Modellhaften arbeiten und die sich doch in einem erstaunlich einig sind: Es geht nicht um großes Getöse, nicht um steile Thesen, nicht um endgültige Erklärungen. So, als seien die Mühen in die Sphären des Modellhaften immer ganz praktisch einzutauchen und die in ihr enthaltene Kleinteiligkeit ein Garant dafür, selbst respektvoll mit dem Gegenstand der eigenen Betrachtung umzugehen: dem Modell von etwas. Das oft mühsam gebaut und erschaffen werden muss.
Das gilt etwa für die beeindruckenden Arbeiten von Thomas Wrede, der kleine Inseln so in ein nachgestelltes Meer tupft, dass man sie gern einmal in echt betrachten und also vor ihnen und zwar leibhaftig stehen möchte, auch wenn man weiß: Es gibt sie nicht. So ist die Ausstellung auch eine Aufforderung, sich mit der Faszination des Angeblichen zu konfrontieren, und wer meint, das Spannungsfeld von Sein und Schein sei hinreichend durchdebattiert, für den weist Peter Kruska, Stadtgalerieleiter und einer der Kuratoren, auf einen interessanten Tatbestand hin: „Die junge Generation ist in dem Wissen aufgewachsen, dass Fotos nicht die Wirklichkeit wiedergeben, und dennoch werden Fotos in den sozialen Medien tagtäglich benutzt, um zu zeigen: ‚Das da bin ich und das da drumherum ist wirklich so gewesen‘.“
Ist es eben nicht. Oder doch? Ganz besonders listig, aber auch wiederum freundlich und einfühlsam geht dabei das Schweizer Künstlerduo Cortis & Sonderegger vor, das ikonografische Foto-Momente der jüngeren Menschheitsgeschichte nachgebaut und dann in ein Bild verwandelt hat: ein letztes Bild der „Titanic“, wie sie hinaus aufs offene Meer fährt; einer der Fußabdrücke der ersten Menschen auf dem staubigen Mond, den uns der Astronaut Edwin Aldrin hinterlassen hat, als er an Ort und Stelle auf den Auslöser seiner Kamera drückte; eine meterhohe Wasserwelle, die in der nächsten Sekunde den Pool und die Liegestühle hinwegspülen wird – „Making of ‚Tsunami‘ (von einem unbekannten Touristen, 2004)“ der Titel der Fotoarbeit.
Damit nicht genug: Die beiden Künstler dokumentieren ihre bis eben erledigte Arbeit stets mit; sie ist gleichberechtigter Teil des Ergebnisses. Der Zement für Aldrins weltbekanntem, weil hinterlassenem Fußabdruck liegt noch bereit, der Spatel, der die Struktur der Sohle in das Modell geritzt hat, ist noch nicht sauber gemacht. Und siehe: Der Blick auf das große Ganze ist nicht weniger poetisch als das Konzentrat. Anders gesagt: Man muss nicht immer alles aufräumen, damit sich der Zauber des Geschaffenen entfaltet.
Die Karten immer offen legt auch David LaChapelle, verantwortlich für diverse Musikvideos für Amy Winehouse, Christina Aguilera oder Elton John, der gern Tankstellen in den Urwald stellt. Er reist dafür nach Maui, nach Hawaii also, geht dort in den Regenwald, stellt seine Modelle ab, nicht ohne sie danach zu fotografieren, sodass ein Bild bleibt. Unübersehbar: die Klebestellen, die nicht ganz exakt gesetzten Kanten, die improvisierte Beleuchtung.
Gewiss: So sehen keine Tankstellen aus, es sind eben auch Modelle von welchen. Der interessante Nebeneffekt: Die reale Natur, in die er seine Tankstellenmodelle stellt, wird seltsam irreal. Das Modell färbt ab, sozusagen – es setzt sich durch, es behauptet sich und fügt sich ebenso ein, und alles wird eine Welt für sich.
„Modell-Naturen in der zeitgenössischen Fotografie“: bis 24. 11., Stadtgalerie Kiel; zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen (Michael-Imhof-Verlag, 96 S., 19,95 Euro)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen