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Hannover versinkt in Wortfluten

Regisseurin Pinar Karabulut versucht in Bremen, den Text „Attentat oder frische Blumen für Carl Ludwig“ des iranischen Autors Mehdi Moradpour auf die Bühne zu bringen – und scheitert krachend: Ohne roten Faden mäandert der Wortfluss am Publikum vorbei. Auch in Osnabrück wusste Rebekka Bangerter mit einem anderen Text Moradpours nichts anzufangen

Von Jens Fischer

Ratlos bis entgeistert kleben Premierenbesucher des Bremer Schauspiels zwischen Schlussapplaus und Intendantenansprache am ersten Bier oder der zweiten Zigarette. Fragen sich nicht zum ersten Mal, ob es überhaupt keine Dramaturgie im Haus gebe. Weil sich ja anscheinend niemand darum kümmere, dass Inszenierungen eine inhaltliche Dringlichkeit nachvollziehbar vermitteln und dabei auch künstlerisch überzeugen.

Immer wieder finden solche Gespräche angesichts der Arbeiten von Regisseur Felix Rothenhäusler statt, auch nach der Uraufführung von Akin Emanuel Şipals „Shirin & Leif“ wurde zum Ende der Saison 2018/19 mangelnde Qualitätskontrolle beklagt.

Zur Saisoneröffnung 2019/20 geht es gleich wieder los mit dem Kopfschütteln. Dabei waren die Voraussetzungen bestens. Extra engagiert worden war die bundesweit als superfeministische, superlustvoll durchgeknallte, super mit Migrationshintergrund aufwartende Jungregisseurin Pinar Karabulut, die mit ihrer Vorliebe für trashiges Poptheater eine „humanoide Komödie“ des iranischen Autors Mehdi Moradpour unter dem Titel „Attentat oder frische Blumen für Carl Ludwig“ erstaufführen sollte.

Tine Werner entwarf ihr in einem Fantasierausch extravagante Kostüme einer ausgeflippt dystopischen Zukunft. Bettina Pommer stellt eine Anrichte für Schaumweinkelche als prunkvollen Altar der Sektschlürfer auf die Bühne, lässt Kettenkarussell, Mond und schwarze Sonne drumherum rotieren. Es glitzert, funkelt, nebelt.

Das Darstellerquartett erzählt vom die Welt verdunkelnden Vulkanausbruch in Indonesien des Jahres 1815. Als Zeitzeugen der umweltverschmutzenden Naturkatastrophe tritt ein Chor der Staubflocken auf: „Wir sind archaische Wesen, steinzeitliche Visitenkarten.“ Sie wollen aktiv bleiben und nun, das Stück spielt 2067, durch einen „Summer of Love“ wirbeln, während eine Friedensparty unter Palmen im dank Klimawandel als Hafenstadt reüssierenden Hannover stattfindet und Europa an der Renaissance der Nationalstaaterei zerbricht.

Auch ein Aufstieg „völkisch-nationaler Gespenster“ wird behauptet. Der Mord an August von Kotzebue durch den im Stücktitel erwähnten Burschenschaftler ist ebenfalls vermerkt, weiter fallende Stichworte sind Sklaverei, Turnvater Jahn, die NSU-Uwes, Zwickau, Chemnitz, Industrie 6.0 usw. Passend zur Wirrnis verkleidet sich ein Mime als Lord Byron und rezitiert dunkelromantische Verse, dessen Tochter Ada Lovelace stellt sich als „Pionierin der Programmierung“ vor und Mary Shelley fabuliert über Frankenstein als Zukunft des Menschen in Zeiten seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Karabulut garniert das verbale Sammelsurium mit Rocky-Horror-Songs in psychedelischen Versionen. Zwischendurch erleben nervtötende Plapperarien der Gute-Laune-Diktatur heutiger Radio-Bremen- oder NDR-Morgen-Shows ihre Parodie.

Mit einschüchternd belesenem, sprachspielerischem Anspielungsreichtum tippt Moradpours assoziativer Schreibstil gerade angesagte Zeitungsdossier-Sujets an, verzichtet dabei aufs Flechten roter Fäden, sodass die überschaubaren Dialoge und monologischen Passagen an der Oberfläche des Namen- und Themendroppings ziellos dahinmäandern.

Kein Weg durch den Wortschungel

„Ich kann das Textmosaik auch nicht entschlüsseln, das muss ich aber auch gar nicht“, erklärt Produktionsdramaturgin Simone Sterr. „Viel wichtiger ist, dass die inhaltliche Verlorenheit des Stücks unserem Lebensgefühl entspricht.“ Wer etwas verstehen will, hat also die Welt nicht verstanden? Sterr: „Moradpour ist eine wichtige Stimme der heutigen Zeit, da es ihm gelingt, die gegenwärtige Überforderung, angesichts zunehmend komplexer werdender Zusammenhänge die Welt zu verstehen, mit der Überfülle seines Sprachkonglomerats abzubilden. Die Welt ist zu kompliziert, um linear von ihr zu erzählen.“

Das Ärgernis dabei: Die Darsteller haben während der Proben beispielsweise die Bezüge der Zitatschleifen zur Genese rechts-nationalen Denkens recherchiert, enthalten diese Fußnoten dem Publikum aber ebenso vor wie all die anderen historischen Kontexte der von Moradpour genutzten Textbausteine. „Das Theater ist ja kein Seminar, es soll vielmehr anregen, selbst Aussagen und Verweise in dem Stück zu entdecken, die vielleicht zusammengehören, und Lust machen, sie dann gedanklich damit zu verknüpfen, was uns heutzutage beschäftigt“, sagt Sterr.

Die Regie weigert sich also konsequent, dem Publikum einen Weg durch den Wortdschungel zu schlagen und doppelt stattdessen die Textästhetik, entwickelt also nicht Sätze wie Szenen auseinander, sondern stellt sie nebeneinander. Karabulut bebildert selbstverliebt kunterbunt die selbstverliebt schlaubergernd komponierte Partitur der Worte. Verschluckt sie auch mal und macht Witzchen dazu. Lebt dabei das aus, was Moradpour „postdramatische Belastungsstörung“ nennt. Wobei der Abend zu einer Art Insiderveranstaltung für Theatermacher mutiert.

Befreit von der Sprachcollage wäre das gefeierte Weltuntergangsparty-Gefühl, für das Daniel Murenas Soundscapes anregend bedrohlich grooven, prima zu vertanzen gewesen. So bleibt nur die große Spiellust der Darsteller zu loben. Aber damit hätte man auch ein Telefonbuch performen können.

Karabulut bebildert selbstverliebt kunterbunt die selbstverliebt schlaubergernd komponierte Partitur der Worte

Begeisterung für diesen wahnsinnig gebildeten Autor existiert auch am Theater Osnabrück. Im frischen Betonduft auf der Dachbodenbaustelle eines Hafenspeichers wird Moradpours Suche nach einem „Körper für jetzt und heute“ erstaufgeführt. Zuerst tönt eine emotionslos aufgesagte Restpostensammlung an Textfragmenten über ein Grab aus Sand, vorbei an Plastikplanen, die Möbel und Darsteller verbergen.

Mit dem Rücken zum Publikum

„Das ultimative Szenario des radikalen Monotheismus“, ach was, „des Technokapitalismus“ wird verkündet als „ein Aufruf an die Wüste“, während sich ein Staubkorn aufgrund seiner pulverisiert gespeicherten Information als „vertrocknete Mutter der Datenströme“ bezeichnen lassen muss, bis „ein Buckliger mit Hundekopf“ in einem „Tableau vivant der verwitweten Landschaften“ die Augen öffnet. Er „schreitet am Kadaver der Tradition vorbei“.

Dann spricht ein Sohn zu seinem Vater: „Du wünschest ich hätte Klumpfüße wäre einäugig hätte zwei Köpfe du/trink doch selbst den Samentee du Staatsmacht Strafmachtsvater du/stellvertretender Gesellschaftskörpervater du“. So geht das immer weiter – selbst Dramaturg Alexander Wunderlich musste den Stoff mehrfach durcharbeiten, um mehr als nur ganz große Fragezeichen zu verstehen. Eine Chance, die das Publikum nicht hat.

„Auch deswegen haben wir die Vorlage auf fast die Hälfte gekürzt und in einer Hörspiel-Installation inszenieren, damit die Besucher sich auf den Text konzentrieren und selbst ihre Bilder dazu ausdenken können.“ Geradezu heilig werden die verklausulierten, häufig peinvoll heinermüllernden Wortcollagen von den dann doch noch auftretenden Darstellern abgefeiert. Es geht irgendwie um Krieg ums Öl, eine Nierenspende aus Liebe und eine Geschlechtsumwandlung als Utopie eines Seins zwischen oder auf beiden Seiten von Männlich und Weiblich. Eigentlich interessant.

Ob Moradpour ein bedeutender Autor ist und ob er der Transgender-Problematik zuliebe etwas weniger eitel verklausulierend hätte formulieren sollen? „Das kann ich nicht sagen“, so Wunderlich. Gesagt werden kann aber: Der formale Zugriff der Regisseurin Rebekka Bangerter auf das hermetische Stück ist selbst von hermetischer Abstraktion, sodass sich hier zwei Künstler in ihrer Unverständlichkeit potenzieren. Dank dieser dem Publikum abgewandten künstlerischen Haltung ist auch in Osnabrück rätselfaltentrübe Premierenkaterstimmung zu erleben.

„Attentat oder frische Blumen für Carl Ludwig“: Mi, 9. 10., 20 Uhr, Theater Bremen, Kleines Haus; weitere Termine: 17./30.10., 1. 12.; Lesung und Gespräch mit Mehdi Moradpour: Di, 1. 10., 20 Uhr, Theater Bremen, Eintritt frei

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