: Sie sind die Erinnerungen, die sie nicht mehr haben
Keine Beschönigung durch Trost: Tommy Oranges Debütroman „Dort dort“ bietet Native American Literature der unversöhnlichsten Art
Von Susanne Messmer
Es gibt da in der Mitte des Buches diese kurze Beschreibung einer Begegnung, die wie durch Magie alles, was Tommy Oranges Debütroman so brillant und grausam macht, noch mal auf die Spitze treibt. Der Filmemacher Dene Oxendene bittet Calvin Johnson um ein Interview, das völlig misslingt. Oxendene möchte einen Dokumentarfilm über die indigenen Völker Amerikas in der kalifornischen Stadt Oakland machen: Seine Gesprächspartner sollen einfach nur ihre Geschichten erzählen. Der Filmemacher ist halb weiß und halb Angehöriger der Cheyenne und Arapaho Tribes, wird aber nur selten für einen „Indianer“ gehalten, weil er auf „unklare Weise nicht-weiß ist“.
Calvin Johnson, Oxendenes Interviewpartner, lebt bei seiner verrückten Schwester, schuldet seinem Bruder Geld für Drogen und weiß nicht, wie er den Jugendlichen, mit denen er arbeitet, helfen könnte. Er berichtet Oxendene, dass er weder etwas über den Stamm seines Vaters noch über den mexikanischen Teil der Familie seiner Mutter weiß. „Wir können nicht darüber reden, weil es keine richtige Native-Geschichte ist, aber irgendwie doch“, sagt er. „Manchmal besteht die Geschichte darin, dass jemand keine Geschichte zu erzählen hat“, denkt Oxendene, das Alter Ego des Autors, wohl ahnend, dass er vielleicht gerade das beste Interview seines Films führt.
Tommy Oranges Debütroman „Dort dort“, bei Erscheinen 2018 in Amerika gefeiert und für den Pulitzer-Preis nominiert, ist wohl nicht nur das härteste Stück Native American Literature, das je geschrieben wurde, sondern bringt selbst weiße Leser, die wenig über die Situation der indigenen Völker Amerikas wissen, mit so großer Wut und Dringlichkeit auf den Stand der Dinge, dass es wehtut.
Orange, geboren 1982 in Oakland, beschreibt verknappt und mit großer Intensität zwölf Protagonisten. Er nimmt sie sich wie in einem Episodenfilm eine nach dem anderen vor und führt sie erst am Ende bei einem großen Powwow zusammen – einem jener Feste, wo getanzt, gegessen und geplaudert wird, um die eigene kulturelle Identität zu stärken, die Jahrhunderte unterdrückt wurde. Eine Postbotin, ein Wartungsarbeiter, ein Junge mit Fetalem Alkoholsyndrom. Ein Drogendealer, ein Vergewaltiger, ein Fettsüchtiger: All diese Menschen bei Orange führen sehr kleine, schäbige Leben.
Sie gehören einer Generation von Entwurzelten an, sind Nachkommen derer, die in den USA im Zuge eines Assimilationsprogramms in den 1950er Jahren teils unter Druck, teils freiwillig in die Städte getrieben wurden. Tommy Orange, wie Dene Oxendene Angehöriger der Cheyenne und Arapaho Tribes, hat in Interviews erzählt, wie er begann, sich für die Leute, die er beschreibt, zu interessieren. Zehn Jahre lang arbeitete er in einer Gesundheitseinrichtung für die „Indianer“ in Oakland, weiß also genau, mit welchen Problemen sie mehr als jede andere Minderheit in den USA zu kämpfen haben: Schulabbrüche, Jugendschwangerschaften, überdurchschnittliche Kindersterblichkeit und Selbstmordrate, schockierend geringe Lebenserwartung.
Wie viele Autoren der Native American Literature vor ihm – Louise Erdrich und Natachee Scott Momaday sind hierzulande die bekanntesten – befasst sich auch Orange mit der bis heute verdrängten Geschichte von Verlust, innerer Kolonisierung, Unterdrückung und Zerstörung, einer „fünfhundertjährigen Völkermordkampagne“, wie er im Prolog schreibt. Anders aber als andere vor ihm gönnt er seinen Helden keinen Trost und keine Hoffnung, lässt sie nicht einmal mehr interessiert sein an dem, was ihre Vorgänger oft noch suchten, in der Natur etwa. Seine Helden sind urbane Indianer, denn Orange weiß sehr gut, dass das Klischee vom „edlen Wilden“ nur ein Abgrenzungsinstrument ist für die sogenannte zivilisierte Welt. Seine Erzählung hat nichts Heilsames. Beschönigung ist kein Mittel, den Menschen Würde zurückzugeben.
Eine einzige Figur gibt es in „Dort dort“, die sich noch nach etwas sehnt, das man selbstbestimmte Identität nennen könnte: Orvil. Er wächst mit seinen Brüdern bei Großtante Opal auf. Aber die erzählt ihnen nichts darüber, woher sie kommen. Sie musste als Kind ihrer rebellischen Mutter nach Alcatraz folgen, auf jene ehemalige Gefängnisinsel, die 1969 bis 1971 von indianischen Aktivisten aus Protest besetzt wurde. Opal hat auf der Insel so Traumatisches erlebt, dass sie ihren Jungs diesen Kampf ersparen möchte.
Also tanzt Orvil ohne Opals Genehmigung beim Powwow. Er will unbedingt glauben, was Tommy Orange in seinem Prolog so verzweifelt beschwört. „Wir sind die Erinnerungen, die wir nicht mehr haben.“ Fast noch schlimmer als die Kugel, die ihn dann trifft, ist Orvils letzte Erkenntnis: Die Menschen, die um ihn herum tanzen, sind nur „als Indianer verkleidete Indianer“.
Tommy Orange: „Dort dort“. A. d. Eng. v. Hannes Meyer. Hanser Berlin, 284 S., 22 Euro; Lesungen: 12. 9., Köln, Literaturhaus, 13. 9. München, Literaturhaus, 14. 9., Berlin, James-Simon-Galerie
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen