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Ähnlichkeiten mit Lebenden

„Ist es Zufall, dass die Täter noch nicht gefunden sind, oder steckt dahinter ein Plan?“ Mit der Uraufführung von „Grete Minde oder die Feuersbrunst zu Tangermünde“ startet das Brandenburger Theater in die neue Saison

Probenfoto von „Grete Minde“ im Open-Air-Theater Marienberg Foto: Brandenburg Theater GmbH

Von Helga Stöhr-Strauch

Wir schreiben das Jahr 1617. Eine verheerende Feuersbrunst hat die Stadt Tangermünde in Schutt und Asche gelegt. Dreihundert Menschen sind verbrannt. Die Überlebenden stehen vor den Trümmern ihrer Existenz und fordern einen Schuldigen, den man zur Rechenschaft für das erlittene Unglück ziehen kann. Die Rede ist von Grete Minde, die der Überlieferung zufolge am 22. März 1619 auf dem Scheiterhaufen zu Tangermünde verbrannt wurde.

Kein leichter Stoff. Trotzdem hat Regisseur Frank Martin Widmaier gerade ihn als Schauspielbeitrag für die Freilichtbühne auf dem Marienberg und als Auftakt für die neue Spielzeit in Brandenburg/Havel ausgewählt, wo er seit März 2019 auch neuer Künstlerischer Leiter ist. Wieso nur ein solcher Schinken, der 400 Jahre zurückliegt?

Widmaier, Jahrgang 1962, ist ein Mensch, der sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden gibt. Nach seinem Theologiestudium wechselte er ins Regiefach und war Meisterschüler von Ruth Berghaus. Er arbeitete an der Staatsoper Berlin Unter den Linden, am Berliner Ensemble, an der Oper Frankfurt und ab 2005 stellvertretender Intendant und Künstlerischer Betriebsdirektor am Gärtnerplatztheater in München. Viele Musiktheaterinszenierungen sowie ein Lehrauftrag für Theatermanagement in Weimar folgten.

Im Südwesten der Republik erfand und etablierte der gebürtige Sindelfinger die „Sindelfinger Biennale“, in der er seinen „Community-basierten Theateransatz“ perfektionierte: ein ambitioniertes, das Tagesgeschehen aufgreifende Miteinander von Profis und Laien auf einer Theaterbühne. Die nun in Brandenburg zu erlebende Uraufführung „Grete Minde oder die Feuersbrunst von Tangermünde“ in der Fassung von Kai Schubert folgt diesem Konzept und wird so zu einer spannenden Mischung aus Gesellschaftskrimi und Historiendrama, bei der die Grenzen zum Heute bewusst transparent gehalten sind.

„Ist es Zufall, dass die Täter noch nicht gefunden sind, oder steckt dahinter ein Plan?“, fragt in bester „Besorgte Bürger“-Manier der Rädelsführer der Aufständischen im ersten Bild, um sogleich zu fordern: „Das Schweigen muss ein Ende haben. Der Minde muss weg!“ Und da der reiche Kaufmann Minde Onkel und Erziehungsbevollmächtigter besagter Grete Minde ist, entschließt er sich in stiller Eintracht mit dem Bürgermeister der Stadt, sein Mündel Grete zu opfern. Um wieder Ruhe herzustellen und – ganz nebenbei – den eigenen Kopf zu retten. So lässt sich in aller Kürze der Plot wiedergeben.

Wie aber genau die einzelnen Schritte vom perfiden Plan bis hin zur grauenhaften Tat aussehen, welche Demütigungen begangen werden, und auch welche fatalen Irrtümer das Opfer selbst begeht, indem es die Macht der Straße unterschätzt, all das fächert das Stück in guter kriminalistischer Manier mittels Rückblenden auf: Grete als gehänseltes Kind, Grete als missbrauchte Jugendliche, Grete als genasführte Liebende, Grete als verarmte Mutter und Grete als vermeintliche Hexe, die auf dem Scheiterhaufen endet.

Mit klarer Handschrift inszeniert Widmaier die einzelnen Etappen, wobei es ihm nicht nur gelingt, professionelle Schauspieler mit Akteuren der Brandenburger Bürgerbühne, des Jugendtheaters und des Bewegungschors in einer guten Balance zu halten, sondern auch den Einzelakteuren genügend künstlerische Freiräume zu gewähren.

Grete Minde wurde am 22. März 1619 auf dem Scheiterhaufen zu Tangermünde verbrannt

So brilliert Clara Schoeller als starke Titelfigur, während Teo Vadersen (der alte Minde) und Gundi-Anna Schick (Stiefmutter) ganz eigene Geschichten um Gewalt, Unterdrückung und Manipulation erzählen. Willi Händler als Bürgermeister und Richter überzeugt als doppelgesichtiger „Kümmerer“, während Steffan Drotleff in einer interessanten Doppelbesetzung als Prediger und Gretes Mann eine beeindruckende Virtuosität an den Tag legt.

Getragen wird das Ganze durch die stimmungsvollen Klangkompositionen von Tobias Unterberg und dem präzisen Zusammenspiel aller Beteiligten, die mehr sind als reine Staffage. Im Programmheft präzisiert der Regisseur sie als „zentrale Kraft in der fatalen Dynamik unserer Grete-Version. Ohne diese Vertreter einer Stadtgesellschaft, die sich in die politische Gestaltung des Gemeinwesens einbringen wollen, wäre unsere Geschichte nicht komplett.“

Ein lauthals nach Veränderung schreiender Mob als Brandbeschleuniger im Drama um Korruption und Manipulation – Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind sicher nicht zufällig.

Weitere Aufführungen werden im Mai 2020 im Großen Haus des Brandenburger Theaters stattfinden

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