StadtgesprächKatharina Wojczenko aus Bogotá: Das allgegenwärtige Verschwinden von Menschen in Kolumbien – so normal, so viel Angst, so viel Trauer
Wer in Bogotá aufgewachsen ist, kennt die Angst vor dem Verschwinden. „Wenn mich ein Unbekannter nach dem Weg fragt, mache ich mir schon Gedanken“, sagt Víctor Tenjo Paéz (58), ein stämmiger Mann mit grauem Strubbelhaar und gütigen Augen. Eine aufgeschriebene Adresse? „Ich würde niemals ein Papier anfassen, das mir jemand auf der Straße geben will. Darin könnte ein Medikament sein, das willenlos macht“, sagt der Systemadministrator, der heute als Barista arbeitet. „Das ist in Bogotá nicht ungewöhnlich. Und dann verschwinden Menschen.“ Der Sohn der Nachbarn, die ein Hostel betrieben, ging eines Tages mit einem Gast Zigaretten kaufen. Sie kamen nie wieder zurück. „Und das passierte in einem guten Viertel, wo wegen der amerikanischen Botschaft viel Sicherheitspersonal ist.“
Allein in den vergangenen 20 Jahren sind nach Angaben der Vereinten Nationen mindestens 200.000 Menschen in Lateinamerika verschwunden – die meisten in Kolumbien. In über 50 Jahren bewaffnetem Konflikt waren es mehr als 150.000 Menschen laut dem Nationalen Opferregister. Von der Hälfte fehlt bis heute jede Spur. Und nur bei der Hälfte ist bekannt, wer für ihr Verschwinden verantwortlich ist: In gut zwei Dritteln dieser Fälle waren es Paramilitärs, bei einem Viertel Guerillagruppen wie die Farc, der Rest staatliche Täter.
Um den 30. August, den Internationalen Tag der gewaltsam Verschwundenen, gibt es eine Reihe von Gedenkveranstaltungen. Das Literaturprojekt Conexiones Anónimas hat zusammen mit mehreren Institutionen Angehörige gebeten, an ihre Vermissten zu schreiben. Die Briefe, blutrote Schreibmaschinenschrift auf weißem Grund, kleben an vielen Hauswänden in Bogotá. Zehntausende Familien wissen nicht, ob ihre Angehörigen noch am Leben sind.
Es ist eine offene Wunde, in der am Mittwoch eine Mitteilung von Staatsanwaltschaft und Gerichtsmedizin zusätzlich bohrte: Sechs der während der Besetzung des Justizpalasts gewaltsam Verschwundenen seien gar keine Verschwundenen – sondern falsch identifizierte Tote. Das widerspricht 34 Jahren Ermittlungsarbeit, mehreren kolumbianischen Gerichtsurteilen und dem des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der hat den kolumbianischen Staat wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dem Verschwinden von elf Menschen verurteilt.
1985 hatte die Guerilla M-19 den Justizpalast besetzt und über 300 Geiseln genommen – darunter Richter, Beamte und Cafémitarbeiter*innen. Als die Armee den Justizpalast stürmte, passierte das, was kolumbianische Medien „Holocaust“ nennen: 98 Tote. Menschen wurden gefoltert, verschleppt, hingerichtet, Beweise vernichtet, Leichenteile in Massengräbern verscharrt und die Aufklärung massiv behindert.
Angehörige halten vieles aus, sagt Saúl Franco Agudelo. „Aber wenn ihr Kind verschwindet, zerbrechen sie daran.“ Der Bogotaner Mediziner ist eine Autorität beim Thema Gewalt und Gesundheit. Seit einem Jahr reist er als Mitglied der Wahrheitskommission bis in die abgelegensten Winkel Kolumbiens, um herauszufinden, was in 50 Jahren Krieg geschah. Die Ungewissheit sei am schlimmsten für die Opfer, sagt Agudelo.
Das sieht Viviana Beltrán genauso. 2002 verschwand ihr Vater. Zwei Tage später tauchte seine Leiche im fast 600 Kilometer entfernten Fortul auf. „Das ist sehr hart, aber zumindest wissen wir, dass er tot ist“, sagt die 24-jährige Immobilienberaterin.
Mediziner Agudelo ist immer wieder überrascht, zu welcher Größe Angehörige fähig sind, wenn sie die Wahrheit erfahren. Wie die Mutter, die zu einem ehemaligen Paramilitärchef sagte: „Sie haben meine Sohn verschwinden lassen und getötet. Ich vergebe Ihnen. Aber meine Familie ist deshalb wütend auf mich.“ Dieser erwiderte mit Tränen in den Augen: „Ich akzeptiere das, ich verstehe Sie. Wir sind verantwortlich. Ich bitte Sie um Vergebung.“
Die Angst bleibt, gerade als Frau, sagt Viviana Beltrán. Oft verschickt sie per WhatsApp ihren Standort, damit ihre Familie wisse, dass sie nicht entführt worden sei. Víctor Tenja ist zumindest die Sorge um seinen Sohn los. Der ist zu seiner Erleichterung nach Japan ausgewandert.
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