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Elternsein als Vollzeitjob

Pflegekinder haben oft Schlimmes erlebt, sie brauchen darum mehr Zeit und Zuwendung als andere. Wir haben mit zwei Familien aus dem Umkreis von Hannover über ihre Erfahrungen gesprochen

Von Simone Schmollack

Torsten Walter und seine Frau hatten nur ein Ausschlusskriterium: Das Pflegekind, das sie zu sich nehmen wollten, sollte kein fetales Alkoholsyndrom haben. Zu viel hatten sie darüber gelesen und gehört, von Herzfehlern, Bewegungsstörungen und geistiger Behinderung war in Broschüren und in Texten im Internet die Rede. All das kann auftreten, wenn eine Frau in der Schwangerschaft trinkt. „Davor hatten wir größten Respekt“, sagt Walter.

Walter, 66, kurzes, graues Haar, schwarze Brille, lässiges T-Shirt über der Jeans, sitzt in einem hohen hellen Raum im Kinderheim „Waldhof“ in Barsinghausen, einer Gemeinde bei Hannover, und erzählt seine Geschichte. Besser: Er erzählt Tims Geschichte, wie der Junge vor neun Jahren zu ihm, seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn kam.

Die Geschichte hat einen positiven Verlauf. Tim trägt mittlerweile den Nachnamen seiner Pflegeeltern, er nennt die Walters Mama und Papa und deren leiblichen Sohn Bruder. „Tim gehört vollständig zu uns“, sagt Walter: „Wir lieben ihn so wie unseren anderen Sohn.“

Andere Kinder, beispielsweise die im „Waldhof“, warten auf Pflegemütter und -väter wie die Walters. Ihre eigenen Eltern sind mit ihnen überfordert, andere haben keine Mutter, keinen Vater mehr. Kinder sollten aber eine Familie haben. Und wenn es nicht die eigene ist, kann es auch eine andere sein.

Doch es ist in Niedersachsen gerade schwer, solche Familien zu finden. Seit einiger Zeit beklagen Jugendämter und Pflegedienststellen, mehr Pflegekinder als Pflegeeltern zu haben. Insbesondere nach Skandalen wie jüngst auf einem Campingplatz in Lügde in Nordrhein-Westfalen, bei dem ein Pflegevater jahrelang Kinder sexuell missbrauchte, sinkt die Zahl von Frauen und Männern, fremde Kinder bei sich aufzunehmen. Zu groß ist ihre Angst vor dem Verdacht, sich um die Kinder nicht aus reiner Menschenliebe, sondern aus niederen Instinkten heraus zu kümmern.

Es spielen aber auch andere Gründe eine Rolle: Viele Paare, die selbst keine Kinder bekommen können, möchten Babys aufnehmen oder adoptieren. Häufig ist das aber nicht so leicht möglich, häufig aus rechtlichen Gründen. Zudem hat sich in den vergangenen Jahren das Geschlechterbild massiv verändert: Frauen sind stärker karriereorientiert und auf Selbstständigkeit und Unabhängigkeit bedacht als früher, Vereinbarkeit von Job und Familie ist für Frauen heute wichtiger denn je.

Bundesweit waren im vergangenen Jahr Schätzungen zufolge rund 75.000 Kinder in Pflegefamilien untergebracht. Der Pflegekinder- und Adoptionsdienst in Hannover konnte in diesem Jahr eigenen Angaben zufolge sechs Kinder in Pflegefamilien vermitteln. Für neun weitere Kinder werden gerade Pflegeeltern gesucht, für vier Mädchen und Jungen konnte bislang keine geeignete Familie gefunden werden.

„Die Zahl der Pflegekinder wächst, die der Pflegeeltern sinkt“, sagt Claudia Weigel vom Pflege- und Adoptivkinderdienst in der Region Hannover. Daher wirbt die Stadt Hannover um Pflegschaften seit Längerem mit Flyern, die in Behörden, Einkaufszentren und Geschäften ausliegen. „Auch so sehen Pflegeeltern aus“ steht auf dem Deckblatt. Fotos zeigen bürgerliche Familien, Alleinerziehende, homosexuelle Paare, Männer mit Punkfrisur und Frauen im Hippielook.

Paare wie die Walters sind so etwas wie ein Hauptgewinn. Tim war zwei, als er vor neun Jahren in das Haus der Familie in einem Dorf bei Hannover kam. Die Walters waren Tims fünfte „Pflegestation“. Tims „biografischer Rucksack“, wie Torsten Walter es ausdrückt, wiegt schwer. Der Junge kann kaum Emotionen zeigen, neigt zu Wutausbrüchen, ist nicht immer ehrlich. Tim heißt nicht so, auch die Walters tragen in diesem Text andere Namen. Die richtigen Namen sollen nicht in der Zeitung stehen, um Tim zu schützen. In der Nachbarschaft weiß aber jeder, dass der Junge ein Pflegekind ist.

Tim isst heimlich und hortet Essen, manchmal findet sein Vater alte Brötchen im Schreibtisch. Einmal hat Tim Geld gestohlen. „Er braucht sehr viel Zuwendung, Aufmerksamkeit, aber auch klare Grenzen“, sagt Walter. Als Tim zu ihnen kam, blieb Walters Frau drei Jahre zu Hause, sie nahm Elternzeit. „Das war sinnvoll“, sagt Walter: „Tim hat gemerkt, dass wir jederzeit da sind. Das war wichtig für ihn.“

Wichtig, weil Tim Vertrauen zu seinen Pflegeeltern entwickeln konnte. Wichtig, weil der Junge erlebte, dass er nicht wieder verlassen wird. „Pflegekinder benötigen eine lange Zeit, um in den neuen Familien anzukommen. Sie in dieser Phase in die Kita oder die Krippe zu bringen, wirkt oftmals destabilisierend für sie“, sagt Weigel: „Davon raten wir strikt ab.“

Tims leibliche Mutter war mit dem kleinen Kind, der Erziehung und Fürsorge überfordert. Vor und nach Tim hatte sie noch andere Kinder, auch mit ihnen hat sie es schwer. „Tim war ein kleiner Junge mit lebensbejahender Ausstrahlung“, erinnert sich Walter an das erste Zusammentreffen. Tim war aber auch ein schwieriges Kind. Einmal lief er immer wieder um einen Kamin herum, eine Stunde lang im Kreis. „Uns war klar, dass es nicht leicht werden wird mit ihm“, sagt Walter. Der Junge konnte nicht richtig sprechen, verstand kaum, was Erwachsene ihm sagten. Eine klassische Entwicklungsverzögerung, wie es in der Fachsprache heißt. „Als er zu uns nach Hause kam, hat Tim eine Zeitlang gar nicht geredet“, sagt Walter.

Das sei dramatisch, aber auch normal, sagt Claudia Weigel. „Wenn ein Kind im Alter von sechs bis acht Monaten aus der Herkunftsfamilie herausgenommen wurde und schon mehrere Stationen hinter sich hat, bevor es zu dauerhaften Pflegeeltern kommt, kann dies zu erheblichen Bindungsstörungen kommen.“ Manche der Kinder seien distanzlos und gingen mit jedem mit, aber auch das Gegenteil kann passieren: Die Kinder können dann nur schwer oder gar keine Beziehung zu anderen Menschen aufbauen.

Für Pflegeeltern ist das eine Herausforderung. Heute arbeitet Tims Pflegemutter als kaufmännische Angestellte in Teilzeit, 16 Stunden in der Woche. „Auch und vor allem wegen Tim“, sagt Walter. Er ist jetzt ebenfalls viel zu Hause. Der Unternehmensberater hat sich selbstständig gemacht und sein Büro im Haus eingerichtet.

Damit gehören die Walters inzwischen zu den Ausnahmen. Während es früher oft so war, dass Pflegeeltern ihr Leben nach den Pflegekindern ausrichteten und die Frauen ihren Job aufgaben, wollen das potenzielle Pflegemütter und -väter heute nicht mehr. Immer weniger Eltern seien bereit, dieses Opfer zu bringen, sagt Weigel. Auch Frauen sei die eigene Karriere wichtig, Job und Familie müssten miteinander vereinbar sein. Das ist ein bundesweiter Trend. „Das Modell, dass eine Person das Geld verdient, während die andere zu Hause bleibt und sich um ein Kind kümmern kann, wird hier seltener“, berichtet der Sozialpädagoge Gunnar Ta­yert, der bei einem Berliner Pflegekinderdienst arbeitet.

Martha Friedrich, 50, ist solch ein Fall. Friedrich, so beschriebt sie sich selbst, ist „Pflegemutter, Hausfrau, Seelsorgerin“. Ihr Mann arbeitet Vollzeit, er ist Montagearbeiter bei VW. Seit 1988 nimmt das Paar Pflegekinder auf, seitdem waren es fünf Mädchen und Jungen, zwei sind bereits verstorben. Derzeit leben zwei Pflegekinder bei ihnen im Haus in der Region Hannover, das Paar hat zudem zwei leibliche Kinder, 23 und 27 Jahre alt.

Sie und ihr Mann seien da „irgendwie reingerutscht“, sagt Martha Friedrich. Jetzt machten sie es aus Berufung: „Das ist ein Vollzeitjob.“ Den sie immer wieder machen würde, trotz der „absoluten Grenzen“, an die sie und ihr Mann bei ihrer letzten Pflegetochter gestoßen waren.

Die Dreijährige stand nachts auf und „setzte alles in Gang“, wie Friedrich es ausdrückt: Gasherd, Waschmaschine, Spülmaschine, Licht in allen Zimmern. Das Mädchen kannte keine Gefahren, war distanzlos, überaus nervös und unruhig. Sie war als erste beim Essen fertig, sprang als erste vom Tisch auf, war die erste an der Tür. „Wir mussten ständig auf sie Acht geben, auch nachts“, sagt Friedrich: „In der ersten Zeit bekamen mein Mann und ich fast keinen Schlaf, wir waren wie Zombies.“

Sie überlegten, das Kind zurückzugeben, fühlten sich bei dem Gedanken aber schlecht und schuldig. Sie baten beim Jugendamt um Hilfe, dann kam einmal in der Woche eine Helferin. Zeit, die Friedrich für Sauna und Fitnesscenter nutzte. Endlich konnten sie und ihr Mann mal wieder eine Nacht durchschlafen.

Jetzt ist das Mädchen zwölf und „ein liebreizendes Kind“. Das trotzdem mehr Zuwendung, Aufmerksamkeit und Umsorgtsein braucht als andere Kinder. Zeit, die ihr vor allem Martha Friedrich gibt. „Das finde ich wichtiger als irgendeinen Bürojob“, sagt sie.

Und dann ist da auch immer noch die leibliche Mutter, die nach wie vor das Sorgerecht hat. Mal taucht sie auch auf, meist zum Geburtstag des Mädchens, und verspricht: „Das nächste Mal gehen wir shoppen.“ Oder sie sagt: „Bald kommst du zu mir zurück.“ Dann verschwindet sie wieder, meist monatelang. So erzählt es Friedrich.

Das Mädchen ist verwirrt und erlebt: Versprechen werden nicht gehalten. „Deshalb ist die emotionale Stabilität, die wir unser Pflegetochter geben, noch wichtiger“, sagt Friedrich: „Das geht leichter, wenn ich mich ganz darauf konzentrieren kann.“

In einer Therapiestunde sollte das Mädchen ein Bild von einer Familie malen. Auf das weiße Blatt zeichnete sie zwei Häuser: links ein kleines Haus mit einem Strichmännchen, daneben ein großes buntes Haus. Im linken Haus, erklärte das Mädchen später, wohne ihre leibliche Mutter, im bunten ihre Pflegefamilie und sie. Und dann sagte sie: „Im bunten bin ich zu Hause.“

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