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Beten gegen Brexit

Mit oder oder Insider-Kompass: Die Spannbreite der gesellschaftspolitischen Stücke bei Tanz im August ist groß

Von Astrid Kaminski

Auf eine symbolistische Welt ohne Symbole zu starren ist in etwa, wie einen Film anzuschauen, in dem alle Bilder unscharf sind. Wann endlich lassen sich die Dinge erkennen, wann entpixelt sich diese Welt, wann wird sie lesbar? Kann jemand mal das Bild scharf stellen? Die Erlösung wird beim Tanz-im-August-Gastspiel „White Dog“ von Latifa Laâbissi im HAU 2 nicht kommen. Ein stilisierter Wald, ein paar Bäume mit pfeifenputzerartigen Lianen, fluo-schwefelgelb auf schwarzem Hintergrund, vier Performer*innen sitzen um einen ebenfalls fluo-schwefelgelben Tauhaufen wie um ein Feuer, Krähen, Hundegebell. So fängt es an. Referenzen schwirren durch die Luft, sie verbünden sich mit Assoziationen, aber sie landen nie.

Als sie 2017 „Self portrait camouflage“ im New Yorker MoMA aufführte, geriet Latifa Laâbissi ins Blickfeld indigener amerikanischer Aktivist*innen, die sie für den Federschmuck in ihrem Solo der kulturellen Appropriation beschuldigten. Die Reaktion der arabischstämmigen Choreografin, deren Werkkosmos um die Frage kreist, wie sich folkloristische Symbole von Traditionen lösen lassen, ist das Stück „White Dog“. Und damit der Versuch, Rituale und Tänze zu finden, die jenseits der Zirkulation kultureller Zeichen liegen.

Das Erstaunliche: Das Unmögliche gelingt. Obwohl die Assoziationsmaschine auf Hochtouren läuft, sind die Zutaten so hybrid, als seien sie durch eine Häckselmaschine gegangen. Wenn die Taue zu diversen Kopfbedeckungen gewunden werden, wenn ein Kreistanz im Schulterschluss getanzt wird, wenn sexuelle Gewaltpraktiken scheinbar ritualisiert werden, wenn eine rote Fußsohle auftaucht, ein Netz, in dem sich ein Mensch verfängt, wenn das Gebiss der Performer*innen metallisch klafft, setzen sich die Referenzen doch nicht fest. Außer vielleicht bei der Frage erschwinglicher Zahnsanierung…

Scheinbar ähnlich ist es bei „#PUNK 100% POP *N!GGA“, einem dreiteiligen Life-Performance-Album von Nora Chipaumire und Team in den Sophiensælen. Spoken Word, Percussion, Vinyl- und Digital-DJ schaffen eine Soundreferenzlandschaft an Patti Smith, Grace Jones und Rit Nzele, an Punk, Pop und Rumba Lingala, in der ich mich erstmal frage: Wo ist hier der Insider-Kompass? Wer hat ihn? Scan durchs Publikum. Versteht hier irgendwer mehr als „Fuckin“, „Revolution“, „Jesus“ oder „Checkpoint Charly“? Spätestens als Chipaumire den Schlachtschrei „Are you ready?“, in die Menge kracht, wird klar: „Yeah!“.

Wobei verstehen hier ein Akt der Solidarität zu sein scheint. Auf „Massenpsychologie“-Skepsis ist bei diesem größtenteils queer orientierten Publikum nicht zu setzen. Und auch durch diverse auf postkoloniale Ästhetiken eingestellte Diskursbrillen werden die Dinge in diesem stark skulptural angeordneten Lautsprecher- und DJ-Set-Palast nicht wirklich scharf. Zwar sind Themen wie das Wechseln in (Musik-)Idiome und Sprachen, die sich Mehrheitsgesellschaften verschließen, HipHop-Referenzen und die Mischung von Kolonialismus- und tribaler Symbolik präsent – es wird jedoch weder auf Nachvollziehbarkeit noch auf das Gegenteil gesetzt. Integration und Exklusion scheinen in dieser Pfingstgottesdienste zitierenden Orgie gleichzeitige Möglichkeiten; sich auszuliefern an Erniedrigungsgesten genauso wie mit der coolsten Variante von „clap your hands“ zu trumpfen.

Ganz anders gibt sich „Hard To Be Soft – A Belfast Prayer“, das dritte gesellschaftspolitische Stück in der diesjährigen 31. Ausgabe von Tanz im August im HAU 1. Dieses Gebet könnte das Stück der Stunde sein. Die Nordir*innen haben aus guten Gründen gegen den Brexit gestimmt: Rund 30 000 Menschen pendeln täglich dank des Karfreitagsabkommens von 1998 zum Arbeiten über die Grenze. Nun droht die Gefahr, dass der hart erkämpfte Frieden durch den Brexit wieder brüchig wird.

Alle machen sie sich auf die heikle Suche nach Ästhetiken, die Ritual- und Liturgieelemente benutzen

Geste der Erhebung

Die Choreografin Oona Doherty hat die Zeit vor 1998 als Kind erlebt. Wie sich Armut und Gewalt in Biografien und in Körper einschreiben, diese Frage scheint sie geprägt zu haben. HipHop, Lip-Sync, symbolische Authentizität durch Working-Class-Protagonist*innen sowie zeitgenössische Körperwürfe und ein Aus-sich-heraus-Winden sind ihr Mittel, um nach einer Liturgie der Erlösung, nach einer Geste der Erhebung, zu suchen. Aus den Boxen wechselt brutaler Straßensound, mit bittersüßer, synthetischer Pseudo-Gregorianik ab, Berliner-Kiez-Jugendliche, trainiert von Szenequeen Fidan Şirin, führen als Gäste einen Em­po­werment-Kreistanz auf und zwei Männer, deren Bäuche über den Hosenbund hängen, ringen sich zu einem Bruderkuss durch.

Lesbarkeit gegen obscurité? Lehrstück gegen Diskursstück? Ja und nein. Die Nichtlesbarkeit in den Stücken von Laâbissi und Chipaumire fordert auf jeden Fall auf einem anderen Niveau Rezeptionshaltungen heraus als bei Doherty. In einem andern Punkt aber treffen sich die Stücke: Alle machen sie sich auf die heikle Suche nach Ästhetiken, die Ritual- und Liturgieelemente benutzen, um Alternativgemeinschaften zu imaginieren, die das Verletzliche als politisch, das Persönliche als Symptom des Gemeinschaftlichen begreifen. Zumindest so lange, bis jemand wirklich aus dem System kippt.

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