Grausam im Schmerz

DEUTSCHES THEATER Die Rede ans Volk findet ohne es statt: Mit zwei Dramen über Gewalt und Familientraumata aus der Antike und der Gegenwart beginnt die Spielzeit unter dem Motto „Macht, Gewalt, Demokratie“

VON BARBARA BEHRENDT

Das Volk hat nichts zu melden. So lautet das Fazit für unsere Gesellschaft, bezieht man Stephan Kimmigs Regiearbeit „Ödipus Stadt“ auf heute. Der Chor? Abgeschafft. Die Stadt, das sind die Zuschauer – und die haben aus dem Parkett naturgemäß wenig Mitspracherecht. Die Eröffnungsinszenierung am Deutschen Theater gewinnt also eine Haltung zum dritten Terminus im Spielzeitmotto „Macht, Gewalt, Demokratie“, indem sie ihn – ganz explizit – streicht.

Vier antike Stücke hat Kimmig miteinander verschränkt: Sophokles’ „König Ödipus“, Aischylos’ „Sieben gegen Theben“, gepaart mit Euripides’ „Die Phönizierinnen“, und wieder Sophokles mit „Antigone“. Was nach einer langen Nacht klingt, ist nach zweieinhalb Stunden zu Ende erzählt – von Ödipus, der unwissentlich seinen Vater erschlug und seine Mutter heiratete, über den Brudermord seiner Söhne Eteokles und Polyneikes, die die ererbte Macht über Theben nicht teilen wollen, hin zu ihrer Schwester Antigone, die sterben muss, weil sie sich dem Gesetz widersetzt und „den Verräter“ Polyneikes bestattet.

Dem Tempo hält sogar das hervorragende DT-Ensemble nicht immer stand: In 50 Minuten den Fall des Ödipus erzählen, vom egomanischen Despoten zum schmerzgekrümmten Häuflein Verzweiflung, das kann auch ein phänomenaler Schauspieler wie Ulrich Matthes nicht immer lösen. Er greift zu Bildern: Erstarrt vor Grauen, das Gesicht verzerrt, blickt er blind gen Himmel – nah an der manierierten Pose. Überhaupt wird oft an der Rampe proklamiert. Das mag mit dem Bühnenbild von Katja Haß zusammenhängen: Eine Halfpipe ragt am hinteren Bühnenrand steil empor. Absehbar, dass die Schauspieler beim Versuch, hinaufzurennen, stets abrutschen müssen. Trotzdem haben Kimmig und sein Dramaturg John von Düffel den Fluch der Labdakiden zum packenden Thriller verdichtet.

Fern von ihrem Resonanzraum, dem Volk, bringt die Macht ein ganzes Geschlecht zu Fall. Kreon, seine psychologische Entwicklung vom loyalen Königsberater zum Tyrannen, steht im Zentrum. Susanne Wolff kann sich für diese Rolle die ganze Trilogie über Zeit nehmen – sie gelingt ihr eindrücklich. Grausam wird dieser Herrscher erst, als der Schmerz über den Selbstmord des Sohnes ihn überwältigt. Wenn sie allein die Rede ans Volk probt, steht da ein Mensch, der die Macht gewaltvoll am Zügel hält, weil er sich so sehr davor fürchtet, sie zu verlieren. Katrin Wichmann als Antigone steht Wolff in nichts nach: Stur, trotzig, unbelehrbar wie ein Teenager bietet sie Kreon die Stirn.

Antigones Geschwister

Jeanne und Simon, die Zwillinge aus Waijdi Mouawads „Verbrennungen“, könnten Antigones Geschwister sein. Auch sie entdecken, dass sie im Inzest gezeugt wurden, auch ihr Vater schlief unwissentlich mit seiner Mutter – er vergewaltigte sie in einem Kriegsgefängnis im Nahen Osten; der verlorene Sohn wurde zum Folterknecht der eigenen Mutter. Die Parallelen zur Ödipus-Tragödie sind deutlich: Wahrheitssuche, Familientraumata, das Gefängnis aus Krieg, Leid, Gewalt.

Man kann also nicht behaupten, das Deutsche Theater setze auf seichte Unterhaltung. Viele politische, gesellschaftskritische Stoffe stehen auf dem Plan, von Shakespeares „Rosenkriege“ über ein Stück über die Zeit Willy Brandts hin zu Marianna Salzmanns neuem Text über jüdische Frauen in der DDR. Intendant Ulrich Khuon hat dafür wieder seine alten Regie-Hasen Kriegenburg, Thalheimer und gleich dreimal Kimmig gewonnen, spannt aber auch erfolgreiche Nachwuchskräfte wie Simon Solberg und Roger Vontobel ein.

Tilman Köhler inszeniert mit „Verbrennungen“ zum ersten Mal am DT und hat sich gleich einen hochemotionalen Brocken vorgenommen: Mouawads Text ist ein Psychokrimi mit vielen Verästelungen, der große Gefühle nicht scheut – eine Herausforderung für deutsche Bühnen, wo jede Leidenschaft leicht unter Kitschverdacht gerät. Auch wenn man Köhler seinen Mut hoch anrechnen muss – der Ton seiner Inszenierung wirkt im zweiten Teil verfehlt. Wechselt er zuerst noch zwischen Jeannes stummer Resignation, dem leisen Nagen ihrer Ungewissheit (verletzlich, aber zäh: Kathleen Morgeneyer) und dem traurigen Gesang zweier arabischer Sängerinnen aus dem Publikum heraus, besteht die zweite Hälfte hauptsächlich aus dem Toben von Christoph Franken, der als Simon um das Bühnenpodest wütet. Maren Eggert als Mutter Nawal verfällt in manifestgleiche Reden, dabei hatte sie die selbstbestimmte Aufklärerin zuvor so warm und stark gegeben. Hier verliert sich Köhler in den vielen Deutungsmöglichkeiten des Stücks.

Die Kraft des Stoffes bleibt. Und das DT zeigt, dass es ihm ums Herz des Theaters geht: große Geschichten erzählen.

■ „Ödipus Stadt“, wieder am 4., 7., 8., 14., 20. September

■ „Verbrennungen“, wieder am 7., 14., 20., 28. September