Stiller Protest in Moskau

Trotz Angst vor Festnahmen kommen am Samstag Hunderte zu Mahnwachen in Russlands Hauptstadt

Aus Moskau Inna Hartwich

Moskau hat sich seit den Stadtumbauplänen des Bürgermeisters Sergei Sobjanin in eine Flaniermeile verwandelt. Mit breiten, hellen Bürgersteigen und grünen Alleen. Also flaniert man. Doch jetzt spaziert man durch die aufgehübschte Innenstadt als Zeichen der Unzufriedenheit. Die Menschen nennen das politische Spaziergänge, manchmal stellen sie sich auch einzeln hin, halten Plakate hoch. Laut russischer Verfassung müssen derartige Mahnwachen nicht genehmigt werden.

Am Samstag ist ein solcher „Piket“-Tag. Einzeldemonstrationen an drei Denkmälern in der Innenstadt, streng beobachtet von der Polizei. Nach der genehmigten Demonstration am Samstag zuvor mit knapp 60.000 Menschen und den ungenehmigten vor zwei und drei Wochen, bei denen Spezialkräfte jeweils mehrere Hundert Demonstranten festgenommen hatten, halten sich die Polizisten diesmal zurück.

Die Proteststimmung in der russischen Hauptstadt nimmt jedoch nicht ab, die oppositionellen Kräfte, deren Anführer in Haft sind, setzen diesmal aber auf einen stillen Protest – als kleine Verschnaufpause im Moskauer Aufstand, bei dem es längst nicht mehr nur um die Registrierung oppositioneller Kandidaten für die Wahl der Moskauer Stadtduma am 8. September geht.

Eis und Selfies

Vor dem Denkmal für den Sänger Wladimir Wyssozki, gleich neben dem pfirsichfarbenen Gebäude des Moskauer Stadtparlaments, stehen die Menschen nah beieinander, reden leise und sind von zahlreichen Journalisten umringt. Manche essen Eis, andere machen ein Selfie mit Nikolai Swanidse vom russischen Menschenrechtsrat oder dem Ex-Präsidentschaftskandidaten Grigori Jawlinski von der liberalen Jabloko-Partei. „Es geht nicht darum, immer größer zu werden. Es geht darum, immer präsent zu sein“, sagt Jawlinski. Einige Straßenblöcke weiter versammeln sich Russlands systemtreue Kommunisten zum Protestzug für freie Wahlen. Knapp 4.000 Menschen sind da.

Die sogenannte Nicht-System-Opposition trifft sich derweil an den drei Denkmälern. Nach und nach halten Einzelne Plakate hoch. „Zeit für Veränderung“ steht darauf oder „Nehmt eure Masken ab“. Masken, die Moskauer Spezialpolizisten seit Kurzem tragen, wenn sie ungenehmigte Proteste in der Stadt auseinanderjagen. Wenn sie mit ihren Schlagstöcken auf friedlich demonstrierende Menschen einschlagen, sie in Gefangenentransporter zerren. Sie sind zu namen- und gesichtslosen Helden des russischen Staates geworden, zum Symbol einer anonymen Macht, die nicht hört, was die Menschen ihr zu sagen haben.

Olga, Mitte 50, ist seit den 2000er Jahren bei Protestaktionen dabei. Oder Konstantin, ein Schüler, der die Politik erst vor einem Jahr für sich entdeckt hat. „Es geht so nicht weiter“, sagen beide. Sie wollen anonym bleiben. Zu groß sei die Angst vor den Folgen. „Man weiß heutzutage nicht mehr, was einem plötzlich vorgeworfen werden kann“, sagt Olga. „Es ist meine Pflicht, hier rauszugehen, trotz der Gefahr, einen Schlagstock auf den Kopf zu bekommen. Wir müssen erreichen, dass sich jeder Politiker persönlich verantwortlich vor seinen Wählern fühlt“, meint sie.

Konstantin, der bereits Ärger mit der Polizei und dem Schuldirektor hatte, will die Haltung „Misch dich da nicht ein“ nicht länger hinnehmen. „Ich will als freier Mensch in Russland leben, ich will mein Land verändern, damit ein Leben in Würde möglich wird.“

An den vergangenen Samstagen ist er durch die Stadt „spazieren gegangen“, hat die Festnahmen mitangesehen, die fabrizierten Verfahren wegen „Massenunruhen“ verfolgt. „Unser Staat ist einfach nur noch unverschämt.“

Die Wahl der Moskauer Stadtduma ist zu einem Ventil geworden im Kampf gegen politische Repressionen im Land, so sagen es viele am Samstag. Der Schüler Konstantin ist enttäuscht. „Die politische Apathie vieler ist unerträglich. Wir müssen mehr werden, viel mehr, dann verändert sich hier vielleicht etwas.“ Am kommenden Samstag will er wieder „spazieren gehen“, den sechsten Samstag in Folge.