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„Die Mutter stirbt. Die Sonne lacht“

Eine Ausstellung in Bremerhaven soll Einblicke ermöglichen in Leben und Werk der 1924 in Hamburg geborenen Lyrikerin und Pulitzer-Preisträgerin Lisel Mueller. Kurator und taz-Redakteur Benno Schirrmeister über unterlassenes Erinnern, unzuverlässiges Erzählen – und darüber, wie Lyrik im Museum funktioniert

Interview Jan-Paul Koopmann

taz: Benno, du hast es eine „Schande“ genannt, dass die bedeutende Dichterin Lisel Mueller in Deutschland weitgehend unbekannt ist. Fühltest du dich in einer moralischen Pflicht, nach mehreren Artikeln auch noch eine Ausstellung über sie zu machen?

Benno Schirrmeister: Eine Pflicht vielleicht nicht, aber es gibt einen moralischen Impuls. Wenn ein deutschstämmiger Sportler irgendwas gewinnt, dann steht das in der Zeitung. Und wenn ein deutscher Fotograf eine wichtige Auszeichnung bekommt, dann steht das auch in der Zeitung. Aber wenn hier eine geflüchtete Deutsche den Pulitzer-Preis für ihre Dichtung bekommt, und das Feuilleton es so gar nicht bemerkt, dann wundert mich das. Das ist mehr als nur eine übliche oder erklärbare Ignoranz. Das ist schon ein Ausdruck wie auch immer unbewusster Unterdrückung.

Was wären denn unbewussten Mechanismen?

Einerseits ist Lyrik eine Kunstform, die ohnehin an der Schwelle der Wahrnehmung herumkrepelt. Es gibt nur wenige Dichter, die in die Öffentlichkeit drängen, und mit Qualität ihrer Arbeit hat das nichts zu tun. Zweitens findet amerikanische Dichtung dann noch weiter außerhalb unserer Wahrnehmung statt. Wir kennen gerade mal solche Figuren wie Allen Ginsberg oder Sylvia Plath – schon bei Carl Sandburg, der ja wichtig war, beginnen auch für literaturinteressierte deutsche Leserinnen und Leser böhmische Dörfer. Für schreibende Frauen gilt das nochmal mehr.

Es bewegt sich aber auch etwas: Die grüne Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther hat mit fraktionsübergreifender Unterstützung die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Lisel Mueller beantragt.

Gerade erfahre ich, dass der Antrag, den meines Wissens KulturpolitikerInnen aller demokratischen Fraktionen unterstützt hatten, vom Bundespräsidenten ohne Angabe von Gründen abgelehnt wurde. Ich kann paradoxerweise nur hoffen, dass der schlechte Gesundheitszustand Muellers verantwortlich für die Entscheidung ist, auf die Ehrung zu verzichten. Es war der Versuch einer formellen Anerkennung, damit über Mueller gesprochen wird und ihr Werk auch in Deutschland erkannt wird. Ich glaube, für sie selbst ist das erheblich weniger wichtig als für Deutschland.

Verlegt worden ist sie aber?

Ich weiß von ihrer Tochter Jenny Mueller, dass Lisel Mueller sehr stolz war, als etwa im kleinen Maro-Verlag eine sehr selektive Auswahl von Übersetzungen erschienen ist. Von daher kann man diese Initiative, aber auch die Ausstellung ein moralisches Anliegen nennen. Es ist wirklich beschämend, dass hier jemand, der wegen der Nazis das eigene Land verlassen musste, ungehört so dichtet – gerade in der Situation, in der Migration ein dermaßen beherrschendes Thema geworden ist. Mueller ist jemand, die eine wichtige Mi­grationserfahrung gemacht hat, daraus schöpft und das ohne Zorn in einer Weise reflektiert, die uns heute unglaublich viel sagen kann.

Das Auswandererhaus Bremerhaven ist auf Biografien spezialisiert. Es geht dir aber nicht um die Person allein, die vor den Nazis in die USA geflohen ist, sondern um die Kunst. Aber wie lässt sich ­Lyrik ausstellen?

Da ist es ein Glücksfall, dass Lisel Mueller selbst das autobiographische Gedicht „Curriculum Vitae“ geschrieben hat. Wir haben versucht, das für die Ausstellung begehbar zu machen und damit ihre künstlerische Sprache, aber auch die lineare Erzählung eines Lebens einzufangen.

Kann man der Dichterin in dieser Hinsicht trauen?

Sie weckt lesekonventionelle Erwartungen – und enttäuscht sie auch gleich wieder. Mueller ist an bestimmten Stellen tatsächlich total unzuverlässig. Die Flucht aus Nazideutschland wird zum Beispiel in einem Vers abgehandelt, als würden da vier Menschen gemeinsam den Atlantik überqueren. Es ist aber klar dokumentiert, dass ihr Vater vorher in die USA gezogen ist und die Familie nachziehen durfte, als er einen Job gefunden hatte. Das hat Mueller verdichtet in einem Bild, in dem auch Mythologie anklingt. In einer Prosa-Autobiografie wäre das eine Todsünde.

Benno Schirrmeister, 47, tazzler in Bremen seit 2002, hat in Aix-en-Provence und Berlin Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Er hat die Ausstellung kuratiert.

Aber nicht bei ihr?

Ich denke, Dichtung sucht nach anderen als diesen faktischen Wahrheiten. Mueller nimmt sich diese Freiheit. Umgekehrt kommen auch Zeilen vor, die inhaltlich überhaupt nichts bringen. Mit so einem „Years and years of this“ lässt man den informationshungrigen Leser einigermaßen allein. Es erzeugt aber den Rhythmus, der im Gedicht eine Rolle spielt.

Das klingt distanziert.

Ja, und das gerade da, wo es besonders persönlich wird: Beim Tod der eigenen Mutter, die Anfang Juni 1953 stirbt, wechselt sie beim Sprechen über sich selbst plötzlich in die dritte Person Singular. Und sie verschärft diese Distanz noch dadurch, dass sie hier mit Wystan Hugh Auden einen anderen Dichter zitiert. Mit diesem persönlichen Verlust begründet Mueller auch ihren Weg in die Lyrik. Weil sie erlebt, wie völlig teilnahmslos die Natur ist: Die Mutter stirbt, die Sonne lacht. Der einzige Ort, an dem es möglich ist, die Trauer zu teilen, ist die Sprache.

Wie geht ihre Geschichte weiter?

Mueller beginnt, sich Lyrik regelrecht draufzuschaffen. Insbesondere amerikanische: Sie liest querbeet alles, was ihr in die Finger kommt. Sie unternimmt formale Experimente und arbeitet sich auch an den traditionellen Formen ab. Es gibt damals keine Handbücher, sie legt sich ihren Parcours selber fest. Und das ist eben die klassisch-migrantische Position einer exzentrischen Figur. Nicht im Sinne von Spleen, sondern als einer Person, die nicht im Mittelpunkt des Geschehens steht, die sich auch in der Literatur am Rande bewegt – und dabei doch so außerordentlich erfolgreich zu ihr gehört.

In „Curriculum Vitae“ beschreibt Mueller auch, wie in ihrer neuen Sprache alle viel zu schnell reden – und sie die anderen schließlich einholt. Ist das nicht geradezu absurd bescheiden für eine Autorin, die diverse wichtige Literaturpreise bekommen hat?

Es ist vor allem auch eine subtile Komik. Zu schnelles Sprechen ist ja gar kein Ziel, das man unbedingt haben sollte. Es heißt ja, dass man spricht, ohne gründlich nachgedacht zu haben. Ich lese das auch als Anspielung darauf, dass Mueller sich dem Pressebetrieb, den sie durchaus verachtet, nicht hat entziehen können.

Inwiefern?

Sie ist Lyrik-Rezensentin geworden für eine Tageszeitung in Chicago und hat sich dort – vielleicht – in den Rhythmus des Zu-schnell-Sprechens begeben. Das ist jedenfalls eine mögliche Lesart. Vieles bleibt Andeutung.

Was zeigt die Ausstellung noch?

Es ist uns gelungen, zwei der überraschend zahlreichen Vertonungen von Lisel Muellers Gedichten in die Ausstellung zu integrieren: Stücke von Gwyneth Walker und Max Raimi. Das ist schon deshalb interessant, weil ja gar nicht allgemein bekannt ist, dass gegenwärtige Lyrik überhaupt vertont wird. Und dann hat Mueller auch noch sehr freie Rhythmen, sehr wenig Reim. Sie arbeitet nicht extensiv mit musikalischen Parametern – aber intensiv. Ihre Lyrik ist deshalb sehr musikalisch, auch wenn sie für manche Leserinnen und Leser erst mal wie Prosa wirken mag.

Nochmal zur Biografie: Ist Lisel Mueller nun eigentlich eine deutsche Dichterin?

Nein, sie ist eine total amerikanische Dichterin, die Deutsch sprechen kann, die viele deutsche Prägungen hat – und der es ausgesprochen wichtig ist, dass amerikanisches Englisch ihre zweite Sprache ist. Sie hat sich sogar mal gefragt, ob sie überhaupt je Dichterin geworden wäre, wenn sie sich nicht so intensiv mit der neuen Sprache hätte auseinandersetzen müssen.

„So far so good. Die vergessene Pulitzer-Preisträgerin Lisel Mueller “: 9. August 2019 bis 5. Januar 2020, Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven. Internet: https://dah-bremerhaven.de/lisel-mueller

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