Berlin, das Mumbai von Deutschland

Kennith Rosario schreibt eigentlich für The Hindu Newspaper und hat in der taz-Redaktion mitgearbeitet. Für ihn zeigt sich beim Feiern, warum Berlin das deutsche Mumbai ist

Die Party ist politisch: Der 41. CSD in Berlin Foto: Stefan Boness

Von Kennith Rosario

In Berlin muss man auffallen, um nicht aufzufallen. Das ist die Hauptbotschaft, die mir diese Stadt entgegengeschrien hat – mit ihren Alternativen zu einer Alternativkultur, mit den After-Partys nach After-Partys, der kollektiven Verachtung für Kapitalismus und Gentrifizierung, mit Secondhand- und Upcycling-Kleidungsgeschäften und der Versessenheit, Wohnungen auch kürzer als eine Woche unterzuvermieten.

Auf den ersten Blick fühlt es sich so an wie Mumbai. Insofern fühlte ich mich hier schnell zu Hause. Genauso wenig, wie Mumbai nämlich Indien ist, ist Berlin nicht Deutschland. Beide Städte lieben die Rebellion. Während in Berlin viele Bewohner aktiv protestieren auf Versammlungen, mit Graffiti, Aufklebern und einer generellen Gleichgültigkeit roten Ampeln gegenüber, liegt Mumbais Rebellion eher darin, dass Reiche und Arme in direkter Nachbarschaft leben.

Aber ein Unterschied hat mich insbesondere als Kulturautor und Kritiker beeindruckt: die starke Präsenz von Politik in den Künsten und das Selbstverständnis vieler Clubs als Kampfplatz für Interessen.

An meinem ersten Wochenende in der Stadt ging ich in das SchwuZ. Der Club ist bekannt für seine inklusive Türpolitik für queere Geflüchtete. Vorm Tanzen gab es allerdings zunächst eine Podiumsdiskussion zur Integration von LGBTQI-Personen mit Migrationsgeschichte – vorher zeigte das SchwuZ noch eine Doku. Während der ernsthaften Veranstaltung wurden eindrückliche Geschichten erzählt – und gleichzeitig wummerte der Bass aus dem Raum nebenan. Und kaum dass die Diskussion beendet war, wurden Ernsthaftigkeit und Stühle schnellstmöglich weggeräumt und die Bar geöffnet. Schon war der eben noch politische Raum bereitet für eine Nacht voller Ausschweifungen.

Eine Stadt mit Meinungen

Foto: privat

Kennith Rosario 25, ist Journalist und Kritiker bei The Hindu Newspaper in Mumbai, Indien. Derzeit nimmt er am Austauschprojekt „Medien­botschafter Indien – Deutschland“ teil. In Indien schreibt er über Kino, Literatur, Gender, Kunst und Kultur.

An einem anderen Wochenende besuchte ich im SO 36 eine Drag-Show namens „Queens Against Borders“ – eine Soli-Veranstaltung für Transgender-Geflüchtete. Vor der Aufführung gab es eine Podiumsdiskussion zu Klimawandel und Migration – direkt gefolgt von Auftritten von Tänzer*innen und Sänger*innen aus dem Irak, Syrien, Israel und anderen Ländern. Die Mischung von Politik, Protesten und Party – besonders in der queeren Szene – fasziniert mich an der deutschen Hauptstadt am meisten. So ist es auch nur wenig überraschend, dass viele Clubs in Berlin sich aus Leerstand entwickelten und besetzt wurden – Rebellion funktionierte hier über das Feiern.

Als Journalist, der über Kino, Kunst und Kultur schreibt, wird mir häufig der Begriff Unterhaltungsjournalismus vorgehalten. In Mumbai, wo mit Bollywood eine der größten Filmindustrien der Welt gedeiht, ist es leicht, Kino, Theater, Musik und anderes als bloße Unterhaltung abzutun. Dort zu schreiben, dass es Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Politik, Kunst, Kultur und Gesellschaft gibt, ist eine Herausforderung – selbst innerhalb der Medienlandschaft.

Dabei darf ein gutes Kunstwerk beides können: fesselnd und unterhaltsam sein. Gerade die Berliner Kulturlandschaft zeigt, dass Politik und Unterhaltung sich nicht ausschließen. Und mit Unterhaltung meine ich nicht Lachnummern von in Fettnäpfchen tretende Politikern, sondern exakt die Art, wie Berlins Nachtleben auf drängende Probleme der Welt, Europas und Deutschlands reagiert.

Die Politisierung beschränkt sich dabei keineswegs nur auf Clubs, wie mir bereits mein erster Besuch in dieser Stadt zeigte. 2018 war ich schon einmal hier im Rahmen des „Berlinale Talents Programme“ – knapp ein Jahr nachdem #MeToo in Hollywood einschlug.

Die kuratorische Sensibilität der Berlinale reflektierte die Sexismusdebatte mit Filmen zu Körperpolitik – vor allem im Panorama-Bereich. Besonders der Standort eines Festivals spielt immer eine wichtige Rolle dabei, wenn es darum geht, den Charakter und den Geschmack zu entwickeln. Ich glaube, dass der politische Diskurs bei der Berlinale viel mit Berlin und seiner manchmal unverschämt direkten Art zu tun hat.

Die Mischung von Politik, Protesten und Party fasziniert mich hier am meisten

Dieses Bewusstsein war auch beim 41. Christopher Street Day zu spüren, wo man Schilder mit den Aufschriften „fags against fascism“ oder „queers for climate change“ sehen konnte. Ich war auf dem Wagen der Berliner Aids-Hilfe und konnte von dort aus auf ein unendliches Meer von Menschen blicken, die am CSD teilnahmen. Während Homosexualität in Deutschland vor 25 Jahren endgültig entkriminalisiert wurde, hat das Oberste Gericht in Indien dies erst vor rund einem Jahr getan. Indien hat noch einen langen Weg vor sich, aber die Berlin Pride hat mich daran erinnert, dass Veränderungen nicht über Nacht eintreten – vor allem mit Blick auf die turbulente Vorgeschichte von Rechten queerer Menschen in Deutschland.

Natürlich gab es auch Kritik: Dem CSD wurden Kommerzialisierung und fehlende In­­klusivität vorgeworfen, ebenso eine klare politische Botschaft wurde vermisst. Es gibt sicherlich noch einiges zu tun. Aber aktiver Dissens und allein das Vorhandensein einer alternativen Parade zum CSD sind ein ­gesundes Zeichen dafür, dass viele offen bleiben für kritische Re­flexion.

Für mich ist Berlin eine Stadt mit Meinungen. Aber es ist auch eine Metropole im konstanten Zustand der Metamorphose. Angesichts der sich schnell verändernden Welt hält Berlin an seinen Werten fest und gibt nicht kampflos auf. Natürlich hat die Vergangenheit der Stadt und die Geschichte dieses Landes einen großen Einfluss auf das kollektive Bewusstsein, aber Berlin 2019 hat dazu noch mal eine ganz eigene Geschmacksrichtung. Die Mischung aus beidem macht einfach süchtig.