: Wohnen im endlosen Ausnahmezustand
Der Niedersächsische Städtetag will, dass Sonderregelungen für Geflüchtetenunterkünfte verlängert werden. Statt Container in Industriegebieten bereitzustellen, sollten Kommunen lieber den sozialen Wohnungsbau vorantreiben, erwidert der Flüchtlingsrat
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Von André Zuschlag
Auf die stark gestiegenen Flüchtlingszahlen vor vier Jahren waren viele Kommunen nicht vorbereitet. Kurzerhand wurden Sonderregelungen geschaffen, um die Unterbringung zu erleichtern. Heraus kamen Containersiedlungen und umgenutzte Lagerhallen in den Industriegebieten der Kommunen. Der Niedersächsische Städtetag fordert nun, diese Regelungen zu verlängern. Denn Ende des Jahres laufen sie aus. Der Niedersächsische Flüchtlingsrat und die Grünen im Landtag haben dafür wenig Verständnis.
Die Sonderregelungen erleichterten die bauplanungsrechtlichen Anforderungen speziell für Geflüchtetenunterkünfte. Container durften ohne Baugenehmigung errichtet und bestehende Gebäude in Industriegebieten auch zur Unterbringung genutzt werden. Das war besonders in den Ballungsräumen nötig – gerade dort befürchtet der Städtetag bald wieder Engpässe. „Wenn die baurechtliche Genehmigungsfrist nicht verlängert wird, werden wir im nächsten Jahr wieder vor dem Problem der Unterbringung der Geflüchteten stehen“, sagt Ulrich Mädge, Präsident des Niedersächsischen Städtetages und Oberbürgermeister von Lüneburg.
Kai Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat hält die Forderung und deren Begründung für abwegig. „Es gibt viele Kommunen mit immensem Leerstand“, sagt Weber. Der starre Schlüssel, nach dem das Land Geflüchtete weiterverteilt, sei das Problem. Eine intelligente Verteilungslösung, sagt er, wäre deutlich sinnvoller.
Auch die Grünen im Landtag zeigen wenig Verständnis für den Vorstoß des Städtetags. „Diese Regelung war seinerzeit als Reaktion auf eine Krisensituation bei der Unterbringung von Geflüchteten entstanden“, sagt Belit Onay, Sprecher für Innen-, Kommunal- und Flüchtlingspolitik.
Kai Weber, Niedersächsischer Flüchtlingsrat
Da diese Krise nicht besteht, bestehe auch keine Notwendigkeit zur Verlängerung der Sonderregelung. „Es muss jetzt vielmehr eine intelligentere Verteilung im Fokus stehen“, sagt Onay. Denn abgelegene, in Industriegebieten eingerichtete Unterkünfte seien sowohl städtebaulich als auch für die Bewohner*innen nicht sinnvoll, da sie eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschweren.
Gerade in den Ballungsräumen kämen Geflüchtete schlicht nicht aus den Gemeinschaftsunterkünften raus – da sind sich Städtetag und Flüchtlingsrat einig. „Auf dem Wohnungsmarkt finden sie nichts. Und dann dürfen sie auch nicht den Wohnort wechseln“, beklagt Weber. Statt die Lockerungen bei Unterkünften zu erhalten, müsse jedoch der soziale Wohnungsbau massiv aufgestockt werden. „Dadurch, dass mittlerweile viele Wohnungen ihre Sozialbindung verlieren, gibt es insgesamt sogar einen Rückgang an Sozialwohnungen“, sagt Weber. Und dieses Problem betreffe nicht nur Geflüchtete. „Obdachlose oder junge Frauen in Frauenhäusern leiden ebenfalls darunter“, sagt Weber.
Das weiß man auch beim Städtetag. „Die Nachfrage nach günstigen Wohnungen ist einfach zu groß. Und die Förderbedingungen sind noch nicht optimal, um genügend günstigen Wohnraum zu schaffen“, erklärt Fabio Ruske vom Städtetag.
Der Flüchtlingsrat schätzt, dass landesweit noch deutlich mehr als 10.000 Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften wohnen – viele von ihnen in Containern und umfunktionierten Gebäuden etwa in Industriegebieten. Da die Art der Unterbringung zu einem Großteil von den Kommunen organisiert wird, fehlt es an einem landesweiten Überblick.
Denn wie viele Menschen noch in Containern wohnen, wurde lediglich voriges Jahr einmalig aufgrund einer Anfrage der Grünen im Landesparlament erhoben – und diese Zählung war lückenhaft.
Im Landkreis Stade etwa sind insgesamt elf Städte und Gemeinden für die Unterbringung zuständig. Anfang vergangenen Jahres lebten dort 188 Geflüchtete in Containern. Wie viele es heute sind, weiß beim Landkreis niemand. Im Landkreis Schaumburg weiß man immerhin, dass noch etwa 190 Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften leben. Container wurden dort nicht genutzt, stattdessen wurden leerstehende Schulen und Kliniken zur Gemeinschaftsunterkunft umgewandelt.
In Göttingen werden von der Stadt noch zwei Einrichtungen in, wie es heißt, „Modulbauweise“ betrieben. Wie viele dort gegenwärtig wohnen, ist nicht zu erfahren. „Es herrscht eine große Fluktuation“, lässt der zuständige Fachbereich mitteilen. Immerhin, die umstrittene Gemeinschaftsunterkunft Siekhöhe, eine ehemalige Lagerhalle am Stadtrand, ist seit diesem Monat geschlossen.
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