: Der Hüter des Bauhauses
Man kann ihn als Spiritus Rector der Bauhaus-Forschung in der DDR bezeichnen: Karl-Heinz Hüter. Doch dieses Kapitel der Zeitgeschichte ist nahezu unbekannt. Ein Besuch bei dem 90-jährigen Architekturhistoriker
Von Sabine Seifert
Er ist in das Thema hineingewachsen, und jetzt ist er dabei, wieder herauszuwachsen. Er ist 90 Jahre alt. Karl-Heinz Hüter, studierter Archäologe und promovierter Kunsthistoriker, hat viel zur Bauhaus-Forschung beigetragen. Die Kunst- und Architekturschule feiert in diesem Jahr ihren hundertsten Geburtstag. Und dort, wo sie 1919 begann, in Weimar, hat Hüter ihre Archivbestände gerettet, gesichtet, analysiert, er hat versucht, seinem Staat, der DDR, die radikalen Ideen des Bauhauses anzutragen. Doch die DDR war nicht experimentierfreudig, nicht lernfähig. Hüters Forschungen wurden untergraben, seine Bücher gar nicht oder zum falschen Zeitpunkt publiziert. Heute kennen den Architekturhistoriker nur noch wenige Leute vom Fach, aber insgesamt wird der Beitrag der DDR-Forschung zur Bauhaus-Geschichte ignoriert.
Ärgert es Sie, dass Ihr Name im Jubiläumsjahr kaum erwähnt wird?
„Das ist der Lauf der Welt. Inzwischen wächst man raus aus der Zeit und dem Kollegenkreis, mit dem man damals zu tun hatte. Und die Bauhäusler sind ja inzwischen tot.“
Karl-Heinz Hüter, mit weißem Haarkranz, sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer seines Häuschens in Ziegenhals, einer Ortschaft im Landkreis Dahme-Spreewald bei Berlin. Früher ein Datschen-Grundstück, das er sich mit dem DDR-Schriftsteller Dieter Noll geteilt hat. Über dem Couchtisch hängt eine klassische Designlampe, an der Seite steht der Bauhaussessel von Erich Dieckmann, ein Original, zwei weitere sind Nachbauten eines Tischlers. In einem nimmt Anna-Katharina Hüter Platz, die Ehefrau. Sie springt ein, wenn Hüters Gedächtnis zu brüchig ist. Er spricht klar und sagt an einer Stelle: „Jetzt fragen Sie wieder so was Genaues.“ Er weiß es genau, aber eben nicht mehr so genau.
Die DDR hat mit dem Bauhaus-Erbe lange nichts zu tun haben wollen, es galt als imperialistisch, kosmopolitisch, funktionalistisch, formalistisch, zu abstrakt. Doch dass die Bauhaus-Tradition in der DDR erst Mitte der siebziger Jahre wiederentdeckt worden sei, stimmt so auch wieder nicht. Es waren nicht wenige Bauhäusler, die nach dem Krieg aus dem Exil zurückkehrten und versuchten, an die alten Ideen anzuknüpfen. Sie wurden Architekten, Dozenten, Künstler und wirkten an verschiedenen Hochschulen, in verschiedenen Funktionen. Bis 1949, noch vor der Staatsgründung und endgültigen Teilung, gab es sogar eine nur kurz währende Annäherung an die Bauhaus-Tradition, bis sie der Bannstrahl der stalinistischen Kulturpolitik traf. Bei den angewandten Künsten, beim Produktdesign existierten später in der DDR mehr künstlerische Freiräume als in der Architektur, die politisch besetzt war. Und in Weimar nahm sich seit den fünfziger Jahren ein kleiner Kreis von Leuten der Bauhaus-Geschichte an. Karl-Heinz Hüter gehörte maßgeblich dazu.
Geboren 1929 im thüringischen Elxleben, kam er 1952 als wissenschaftlicher Assistent an die damalige Hochschule für Architektur und Bauwesen (HAB), die heutige Bauhaus-Universität in Weimar. Der Bauernsohn hatte in Jena Archäologie und Kunstgeschichte studiert, in Weimar will er über den belgischen Architekten und Designer Henry van de Velde promovieren. Van de Velde gründete die Kunstgewerbeschule in Weimar, die Vorgängerinstitution des Bauhauses. „Van de Velde und dann Bauhaus, weiter bin ich nicht gekommen“, sagt Hüter mit großem Ernst. Man hatte ihn damals nebenbei mit der Erforschung der Hochschulgeschichte betraut.
Befanden sich die Materialien im Hochschularchiv?
„Van de Velde war natürlich schon im Landesarchiv. Die Sachen vom Bauhaus lagen noch völlig ungeordnet im ehemaligen Werkstattgebäude auf dem Dachboden. Die haben wir aus dem Müll heraus ins Archiv gebracht.“
Was heißt, die lagen im Müll?
„Im Rahmen von Brandschutzmaßnahmen haben wir den Boden aufräumen müssen. Und da lag sehr viel altes Zeug herum, und auf einem Haufen auch noch Bauhaus-Material.“
Das hatte den Krieg dort überstanden?
„Das hatte die ganze Zeit dort überdauert, auch die Nazizeit. Die Bauhaus-Alben habe ich als Erster wieder in der Hand gehabt und die kleinen Streifchen festgemacht.“
Im neu eröffneten Bauhaus-Museum in Weimar sind die Bauhaus-Alben heute in digitalisierter Form zugänglich. Hüter hatte 1959 drei Hilfsassistenten zur Seite, die das umfangreiche Material sichteten. „Aber die Arbeit selbst habe ich allein machen müssen“, sagt er. Aus seinen Analysen sollte das Buchmanuskript „Das Bauhaus in Weimar“ entstehen, in dem er den gesellschaftspolitischen und revolutionären Kontext der Gründungsjahre in der Weimarer Republik erhellt. Ein vergeblicher Versuch, das Bauhaus mit Dokumenten, verifizierbaren Belegen gegen die anhaltende Ignoranz der Kulturfunktionäre zu rehabilitieren.
1963 verlässt Hüter Weimar, sein Vertrag wird nicht verlängert, er wechselt an die Bauakademie in Berlin. Hier kann er zunächst weiter zu Walter Gropius und dem Bauhaus forschen.
Ist Gropius Ihr Lieblingsarchitekt gewesen?
„Da hab ich noch nicht bei mir nachgefragt.“
Immer wieder schaut Hüter zwischendurch fragend seine Frau an. Das Bauhaus, die Baugeschichte der Moderne war sein Lebensthema, es hat sich so ergeben. Die Argumentationslinien, ideologischen Querelen, all das hat ihm damals schon nicht eingeleuchtet. „Es hat mich nicht berührt“, sagt er, „ich habe mein Ding gemacht.“ Ob er das vor 50 Jahren auch so formuliert hätte?
„Hüter war nie jemand, der in die erste Reihe gewollt hat“, sagt Norbert Korrek, der in Weimar zu DDR-Zeiten studiert und dort bis vor Kurzem Architekturgeschichte unterrichtet hat. „Er war eher ein Stiller. Aber er hat genau gewusst, was er wollte.“ Korrek erinnert sich noch genau, wie er Hüter 1991 das erste Mal bei einem Vortrag persönlich erlebt hat. „Wir kannten natürlich alle sein Buch“, erinnert sich Korrek am Telefon, „es gab ja sonst keine Literatur dazu.“ Für ihn besteht Hüters wissenschaftliche Leistung vor allem darin, dass er sich frühzeitig gegen Widerstände des Themas angenommen und vor allem immer an Primärquellen orientiert hat. „Seriös, gründlich. Das hat ja wohl auch Gropius beeindruckt.“
Zu einer persönlichen Begegnung zwischen Karl-Heinz Hüter und dem Weimarer Bauhaus-Gründer Walter Gropius ist es nie gekommen. Sie korrespondierten. Etwa zehn Jahre hat Hüter an dem Manuskript „Das Bauhaus in Weimar“ gearbeitet, 1966 ist es fertig und soll im Berliner Henschel-Verlag erscheinen. Alles läuft gut. Dann verfällt Hüter im Dezember 1967 auf die Idee, dem in die USA ausgewanderten Gropius die Druckfahnen seines Buches zu schicken. Auf dem direkten Postweg über das Büro des Akademiepräsidenten. Gropius antwortet begeistert am 8. Februar. „You can hardly imagine what a strong impression your book had made on me“, den Satz hat sich Hüter bis heute gemerkt.
Der unbürokratische Akt fliegt auf, Hüter erhält eine Disziplinarstrafe, die Drucklegung seines Buches wird gestoppt. 1972 bekommt er die Rechte an seinem Buch zurück und reicht es beim Ostberliner Akademie-Verlag ein, wo es schließlich 1976 erscheinen kann. Das Übliche, Hüter lächelt. Mangelwirtschaft. Es war beschwerlich, Genehmigungen, Kunstdruckpapier zu beschaffen. Dafür erscheint das Buch in unzensierter Fassung. Norbert Korrek kaufte sich das Buch als Student. „Wir wussten ja nicht viel über die Zeit“, erzählt er. „Zwar wurde ab Ende der 70er in der DDR viel Bauhaus gemacht, aber es wurde nie zurückgeblickt, die Zeit nie reflektiert.“ Korrek hat später selbst viel zum Thema publiziert. „Es war ein Dauerpolitikum“, erklärt er. „Die historischen Orte des Bauhauses lagen mit Dessau und Weimar im Osten, etwa 90 Prozent des Archivmaterials befand sich aber im Westen.“ Eine Konkurrenzsituation. Erst ab 1976 begann man in Dessau, die Nachlässe der in der DDR verbliebenen Bauhäusler zu archivieren.
Eine in Angriff genommene Gropius-Biografie kann Hüter nicht beenden, da ihm verwehrt wird, in die USA zu reisen und das Archivmaterial im Bauhaus-Archiv einzusehen, nichtsdestotrotz bekommt er 1976 die Bauhaus-Medaille der Bauakademie verliehen. Es ist das Jahr, in dem die DDR offiziell das Bauhaus als sozialistisches Erbe anerkennt – aber darauf reduziert. In Dessau findet das erste internationale Bauhaus-Kolloquium statt. Die deutsch-deutschen Verträge und das Helsinki-Abkommen führen dazu, dass sich die DDR international positionieren will. Eine Öffnung mehr nach außen als nach innen.
Hüter kündigt 1978 an der Bauakademie und wird freiberuflicher Autor, in der DDR ein ungewöhnlicher Schritt. Er hält sich auch mit Drechselarbeiten und Farbgestaltung bei der Restaurierung von Dorfkirchen über Wasser.
Sind die Ideen des Bauhauses ins Bauen der DDR eingeflossen?
„Am Anfang schon. Da haben ja relativ oft Bauhäusler mitgewirkt. Die Laubenganghäuser in der Frankfurter Allee.“
Und dann war das nicht mehr opportun?
„Dann kam das sowjetische Vorbild, die Stalinallee. Und das hat relativ lange gewirkt. Sozialistischer Realismus, die Nadi-Tradi-Zeit: nationale und lokale Traditionen. Das war unsere etwas saloppe und abfällige Art, darüber zu reden.“
Vor allem in den stalinistischen 50er Jahren galt das Formalismus-Verdikt, das moderne Kunstrichtungen, vom Expressionismus bis zum Konstruktivismus, verurteilte. Erst 1987 kann endlich Hüters „Architektur in Berlin. 1900–1933“ erscheinen, es geht in den Wendejahren unter. Hüter klingt nicht amüsiert, aber auch nicht zornig, wenn er die Widerstände im Lauf seiner Karriere als „gewisse Schwierigkeiten“ bezeichnet. „Das ist die Altersmilde“, sagt Anna-Katharina Hüter.
Der zeitliche Abstand relativiert, rückt das Erlebte in die Ferne. Details, Wissen gehen verloren. Auch jemand, der vieles vor dem Vergessen bewahrt hat, ist nicht davor gefeit, selbst zu vergessen – und in Vergessenheit zu geraten.
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