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Mit Fummel und Papierspitzhut

Zum richtigen Stichwort den richtigen Quatsch mit dem vorgeschriebenen Requisit machen: Zum Saisonabschluss zeigt das Oldenburgische Staatstheater die „Rocky Horror Show“

Von Jens Fischer

Die Besucher beginnen die Inszenierung als Selbstinszenierung auf dem Vorplatz. Im queer interpretierten Horrorfilm-Design oder in flippig gemeinter Farbenpracht ströme vor allem die 68er-Generation mit ihren ebenso verkleideten Kindern zur „Rocky Horror Show“ ins Oldenburgische Staatstheater, wie Dramaturg Jonas Hennicke beobachtet hat. „So könnte sich eine Tradition etablieren.“ Man geht nicht mehr ins Weihnachtsmärchen, sondern gibt mit „Rocky“ die eigene Kino-, Theater-, Lebenslust-Initiationen an die nächste Generation weiter. Arbeit am Mythos.

Schließlich gilt ja auch die Popkultur als unsere Antike, auf die wir Auseinandersetzungen mit der Welt immer wieder beziehen. Etwa die Suche nach Identität, die in „Rocky“ eine höchst spielerische Angelegenheit ist. Also hinein in die Fummel fürs Anderssein. Wer keine Netzstrümpfe, Zombie-Freak-Perücke, Glitzermelone oder Handschuhe aus Spitze in erstklassiger Secondhand-Anmutung besitzt, holt zumindest ein Rüschenhemd aus dem Sack abgelegter Textilien. Hingucker ist Crossgender-Stöckeln auf High Heels. Für Make-up und Dekolleté gilt: nur nicht untertreiben.

Ein Drittel der Besucher ist unbeeindruckt leger gewandet, andere addieren dazu ein papiernes Spitzhütchen – so wie auf Fotos von „Heute habe ich Spaß“-Behauptungen auf trostlosen Silvesterfeiern. Das gesamte Theaterpersonal ist hergerichtet wie Thekenkräfte in Schwulenbars oder als Dienstmädchen. „Freiwillig, weil alle im Haus begeistert sind, dass wir den Kult nach 20 Jahren bei uns wieder aufleben lassen“, so Hennicke.

Serviert wird im Foyer blutrote Riff-Raff-Bowle (mit knutschsüßem Erdbeergeschmack) oder von einer güldenen Cocktailkarte ein „Frank N. Furter“ geordert: Limonenlikör, dunkler Rum, Joghurt, vanillig aromatisiert und mit Eis gekühlt. Oldenburg hat in der LBGT*-Szene zwar nicht das krachledernste Regenbogen-Image, aber eine dafür offene Stadtgesellschaft, am 25. Christopher Street Day (CSD) nahmen nach Veranstalterangaben kürzlich 12.000 Menschen teil, 5.000 sahen tänzelnd zu. „CSD ist hier Breitenkultur wie Kramermarkt und Kohl-und-Pinkel-Tour“, so Hennicke.

Auch im Theater müssen sich die Anhänger nicht in ihrem Bewegungsdrang eingeschränkt fühlen. Abgesenkt und zur Party-Zone erklärt ist der Orchestergraben, 100 Fans sprechen, singen, toben, klatschen, körperschlenkern das Bühnengeschehen mit, machen Seifenblasen, tröten herum und empfangen Schweißtropfen des Protagonisten wie Taufwasser der verkündeten Frühlingsreligion: Von Rollenklischees und sexueller Eintönigkeit befreit sind Tage und Nächte durch Frank N. Furters holden, belebenden Blick.

Der Erzähler (Jens Ochlast) wird Goethes „Osterspaziergang“ später auch im O-Ton zitieren – wofür er kräftige Buhs erntet. Ein Pausenclown ist er – funktioniert allerdings umgekehrt: Wird dort die ernsthafte Welt spaßig ad absurdum und damit zur Kenntlichkeit geführt, wird hier der Vertreter der ernsthaften Welt als Absurdität verhöhnt.

Da ist „niederschwellige Partizipation“, wie Hennicke sagt. Wer mag, kann für zehn Euro einen Fan-Rucksack mit Bedienungsanleitung kaufen. Langjährige „Rocky“-Junkies bemerken, das einst übliche Werfen von Reis und Toastbrot ist inzwischen untersagt, weil mit Lebensmitteln nicht gespielt werden dürfe. Um auch Klopapierrollenweit­wurf beim Entbandagieren der Titelfigur zu verhindern, tritt diese gar nicht erst bandagiert, sondern im Lamellenvorhangkleidchen auf. Nicht mehr Leuchtstäbe, Wunderkerzen oder Feuerzeuge erstrahlen – sondern ein Lichtermeer aus Handytaschenlampen.

Vom Charme des anarchischen Tohuwabohus in Kinonachtvorstellungen der „Rocky“-Verfilmung ist wenig geblieben. Viele Besucher sind mit Beamten-Pflichterfüllungsstress dabei, zum richtigen Stichwort den richtigen Quatsch mit dem vorgeschriebenen Requisit zu absolvieren. Super klappt das, wenn das Parkettpublikum von den Rängen aus Wasserspritzpistolen eingenässt wird.

Auf der Bühne geht es derweil dem bieder-verklemmten Pärchen Janet und Brad bei einer Autopanne ähnlich, es flüchtet in ein Schloss und will Hilfe herbeitelefonieren, sieht sich mit seiner Spießernaivität aber einer verführerischen Aliengesellschaft vom Planeten Transsexuell konfrontiert, die ansteckend ausgelassen das Lustprinzip als der Weisheit letzten Schluss feiert und die Freuden der Promiskuität bewirbt.

Wobei Sexmaniac Frank N. Furter erst Janet, dann Brad verführt, was auch in #metoo-Debatten nicht als Belästigung, Nötigung oder Vergewaltigung verstanden werden soll, sondern als Grundkurs in sexueller Befreiung. Im Film und auf dem Theater war das bisher hinter einer Leinwand als Schattenspiel zu sehen, in Oldenburg wird ohne Sichtschutz auf Deutlichkeit gesetzt. Auch Frank N. Furters Dauergeilheit ist nicht nur angedeutet, sondern handgreiflich ausformuliert.

Statt Wunderkerzen erstrahlen heute Handy-Taschenlampen

Robert Gerloff lässt in Sachen erotischer Animation denn auch die Tänzerinnen durch die Parkettreihen schlängeln und auf Schößen Platz nehmen. Die Kostüme sind gruftiemäßiger als gewohnt. Statt aalglatt choreografierter Musicalakrobatik gibt es einen Bewegungskanon als parodistische Show-Gaudi zu erleben. Die Bühne quillt manchmal über vom Übermut der um 15 Statistinnen erweiterten Tanzcompagnie.

„Die Inszenierung ist so teuer wie eine sehr große Schauspielproduktion, jeden Abend 40 Menschen auf und hinter der Bühne“, erklärt Hennicke. Dabei ist sein Team immer um den Hommage-Duktus bemüht. Das Bühnenbild entspricht großenteils minutiös dem des Films. Dafür sind die Rollen nicht mit Musicalkünstlern, sondern mit Schauspielern aus dem eigenen Ensemble besetzt.

Richtig gut singt aber nur Alexander Prince Osei als Frankie, der sich mit Retorten-Rocky (Johannes Schumacher) ein Sextoy als schwulen Traum vom blonden Muckibudenmann erschafft, selbst aber schon ein Prachtexemplar in Ledercorsage ist: Er trippelt mit tuntigem Narzissmus kokett, krönt sein Haupt mit einer Afroperücke und trägt die Nazikennzeichnung für Homosexuelle wie einen Orden, intoniert seine Songs kraftvoll voluminös und spielt den Hohepriester der Dekonventionalisierung höchst präsent.

Seine Performance ist das beste Beispiel, dass die inbrünstig gefeierte Diversität und der dabei verbreitete Spaß, aber auch das Selbstbewusstsein, das die Protagonisten abseits der Norm für sich beanspruchen, kein bisschen angestaubt wirken. Die Partystimmung schwappt von den Stehplätzen auf die Sitzplätze über. Alle zusammen sangen zum Ende der Premiere wie bei einem Popkonzert minutenlang die Botschaft „Don’t dream it, be it“ und bekamen ohne Dirigenten sogar eine dynamische Steigerung des 550-Kehlen-Chorus hin, woraufhin ein sichtlich gerührtes Ensemble in den Zugabemodus schaltete.

Nächste Aufführungen: So, 30. 6., und Di, 2. 7., Oldenburg, Staatstheater. Wiederaufnahme: 27. 8

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