piwik no script img

Hongkong begehrt auf

Bei den größten Protesten in Hongkong seit 30 Jahren sind Hunderttausende auf die Straße gegangen. Anlass ist ein geplantes Gesetz, das Auslieferungen an China ermöglichen soll

Sonntag in Hongkong: Vielen Demonstrierenden gilt die Regierungschefin Carrie Lam als Marionette der chinesischen Zentral­regierung Foto: Thomas Peter/reuters

Von Fabian Kretschmer, Seoul

Es sind historische Bilder, die am Wochenende aus Hongkong an die Öffentlichkeit gelangten: Hunderttausende Demonstrierende marschierten stundenlang friedlich durch die Stadt. Die Organisatoren sprechen von mehr als einer Million Teilnehmern, die Polizeibehörden geben rund 240.000 an. In der Nacht zu Montag dann eskalierten die Proteste, als mehrere hundert Bereitschaftspolizisten die Gegend um das Parlamentsgebäude abriegelten – und die Demonstration mit Schlagstöcken aufzulösen versuchten.

Anlass des Protests ist ein geplantes Auslieferungsgesetz, das Hongkongs Verwaltungschefin Carrie Lam am kommenden Mittwoch im Schnellverfahren vom Parlament beschließen lassen möchte, ohne den üblichen Weg über die Fachausschüsse zu gehen. Damit wäre es künftig möglich, Verurteilte nach Festland-China auszuliefern. Kritiker sehen darin einen weiteren Vorstoß der Zentralregierung in Peking, ihren Machteinfluss über die einstige Kolonie Großbritanniens auszuweiten.

Widerspenstiges Hongkong

1997 Übergabe der einstigen britischen Kolonie Hongkong an China: Die Region behält Sonderrechte, wird aber in die Volksrepublik eingegliedert.

2001 tritt die Vize-Verwaltungschefin Anson Chan unter Druck aus Peking zurück. Sie hatte kritisiert, dass sich Peking in die Innenpolitik Hongkongs einmischt.

2003 ziehen eine Viertelmillion Hongkonger gegen ein Gesetz auf die Straße, das drakonische Strafen gegen politische Subversion vorsieht. Das Gesetz wird gekippt.

2014 entscheidet die Zentralregierung in Peking, dass sie die Kandidaten für den Hongkonger Verwaltungschefs vorselektiert. Die „Regenschirmproteste“ folgen. Mit den Schirmen wehren die Demonstrierenden Tränengas ab.

Die Zivilgesellschaft in Hongkong galt noch vor wenigen Wochen als deutlich geschwächt: Noch immer werden Aktivisten für die Regenschirm-Proteste im Jahr 2014 strafrechtlich verfolgt. Abgeordnete, die damals die Anliegen der Demokratiebewegung unterstützt hatten, wurden in den vergangenen Jahren unter fadenscheinigen Gründen ihres Amtes enthoben. Über mehrere Monate hatten die Demonstrierenden freie Wahlen gefordert. Die Zentralregierung in Peking hingegen hatte zuvor entschieden, künftig ein 1.200-köpfiges Komitee zu formieren, das über die Kandidaten für den Posten des Hongkonger Verwaltungschefs entscheidet. Das Gesetz wurde letztlich umgesetzt: Für die Wahl 2017 waren nur zaghafte Peking-Kritiker als Kandidaten zugelassen. Die jetzige Verwaltungschefin Carrie Lam gilt unter Kritikern als „Marionette Pekings“.

Die Regenschirm-Proteste fanden nur in Teilen der Bevölkerung Rückhalt: Vorwiegend wurde sie von Studierenden angeführt. Manchem Bewohner gingen die Forderungen zu weit.

Bei der Demonstration am Sonntag war dies offenbar anders: Videoaufnahmen belegen, dass die Teilnehmer der Proteste aus allen demografischen und sozialen Schichten stammen. Twitter-Nutzer berichten auch von Festland-Chinesen, die sich zu den Protesten eingefunden hatten. Die Demonstration war der größte Menschenauflauf in Hongkong seit 1989. Damals gingen die Stadtbewohner gegen die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking auf die Straße. Vor knapp einer Woche erst hatte sich das Tiananmen-Massaker zum dreißigsten Mal gejährt.

„Niemand will,dass Hongkongein Zufluchtsort für flüchtige Straftäter ist“

Carrie Lam, Regierungschefin in Hongkong

Ob die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz vom Sonntag erfolgreich verlaufen, bleibt abzuwarten. Auf dem chinesischen Festland ist die Berichterstattung stark eingeschränkt. Die staatliche Tageszeitung China Daily mit Sitz in Peking etwa spricht von „ausländischen Kräften“, die Unruhen angezettelt hätten. Belege dafür gibt es keine.

Hongkongs Verwaltungschefin Lam hält trotz der Proteste an dem Auslieferungsgesetz fest. Am Montag sagte sie, sie habe keinerlei Instruktionen von der chinesischen Zentralregierung erhalten. Für sie sei es wichtig, eine Gesetzeslücke zu schließen: „Niemand will, dass Hongkong ein Zufluchtsort für flüchtige Straftäter ist.“ Und dass es zu dem heftigen Protest kam, sei Beleg dafür, dass die demokratischen Grundrechte in Hongkong gesichert seien. Viele Demonstrierende sehen das anders. Sie forderten den Rücktritt der Verwaltungschefin. „Liefer dich selbst aus!“, lautete einer ihrer Slogans.

seite

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen