dvdesk: Kompromisslos kalter Racheengel
Ich sehe aus dem Fenster und die Lkws fahren unentwegt vorbei.“ Das ist der Code-Satz. Eine Frau ruft an, sie sagt diesen Satz, nennt ihre Adresse, dann kommt Sadie vorbei.
Sadie, kein Nachname, einfach nur Sadie, ist tough, sehr tough. Klar und voller Energie jede Bewegung, entschlossen die Blicke, die Schritte. Zu einem treibenden Beat schickt der Film sie auf den Weg, zu Andrea Shaund, um die fünfzig, den gebrochenen Arm im Trageverband. In kühlen, ins Blaugraue gehenden Farben das Haus, mit Schnitten wie von Rasiermessern in Szene gesetzt, mit Worten wie Eispickeln erklärt Sadie Andrea Shaunds Ehemann, der seine Frau seit Jahren schlägt und missbraucht, was nun folgt: Er kündigt seinen Job, überschreibt ihr das Haus und viel Geld, dann zieht er ab und lässt sein Opfer in Frieden. Falls sich noch Frieden finden lässt, wenn er in der engsten Nähebeziehung und im eigenen Haus einmal zerstört worden ist.
Mehr als einen Schlag sieht man nicht. Nur einen Schnitt als Ellipse, die alle Gewalt der Fantasie überlässt, danach ein blutüberströmter und gebrochener Mann, der tut, was ihm Sadie befiehlt. Das bleibt für den Rest von „Vigilante“ das Prinzip. Er täuscht, im Titel schon, einen Beitrag zum Genre des Selbstjustizfilms an. Die präzise Mise en Scène, die rohe Energie, Musik, Schnitt und vor allem Olivia Wildes ballistisches Spiel vermitteln einen Eindruck von Gefahr und Gewalt, an dem aber in der Bildpolitik fast alles implizit bleibt. Sarah Diggar-Nickson, Buch und Regie, stellt die Erwartungen ans Genre so auf den Kopf: Es geht um nichts anderes als Gewalt, häusliche Gewalt, in dem Film, der aber alle Exploitation so ausdrücklich verweigert, dass es beinahe zu so etwas wie Genre-Phantomschmerzen kommt.
Frauen sitzen im Stuhlkreis, weiße und schwarze. Eine Therapiegruppe, jede berichtet, was ihr vonseiten ihres Ehemanns widerfuhr. Das geht minutenlang, Zeugnis um Zeugnis brutaler Misshandlung, Tränen als Ausdruck von Schmerzen, die sich kaum ausdrücken lassen. Der Film zeigt das, Bild um Bild, schmerzhaft nüchtern. Die Kamera führt Protokoll, der sachliche Schnitt nötigt zu keiner falschen Empfindung. Diese Sequenzen sind, anders als das in einem schlechten Film wäre, nicht Alibi für die Racheaktionen; sie sind der Kern der Sache. Es ist auch nicht unbedingt so, dass die Selbstjustizaktionen dadurch gerechtfertigt wären. Erklärbar, verständlich allerdings werden sie schon.
Über die Therapeutin findet Sadie die Frauen, zu deren gewaltsamer Befreiung sie eilt. Es sind verzweifelte Fälle und Situationen, aus denen die Frauen keinen anderen Ausweg mehr sehen. Einmal stößt sie auf einen anderen Fall: eine Mutter, Alkoholikerin, die ihre beiden Söhne vernachlässigt, einsperrt und schlägt. Und hier kippt die Geschichte in die Vorgeschichte zurück: Sadie selbst ist traumatisiert, psychisch und physisch, mehrfach sieht man Messerschnittnarben auf ihrem Rücken. Sie agiert ihre eigenen Verletzungen an den verletzten Anderen aus. Näher am Genre dann wieder das Ende als Showdown: Sadie muss sich ihrem eigenen Widersacher konfrontieren.
„Vigilante“ ist kompromisslos kühl, mit ständigem Druck inszeniert. Würde aber doch nicht so gut funktionieren, hätte er nicht in Olivia Wilde – deren Regiedebüt „Booksmart“ in den USA gerade sehr gefeiert wird – die perfekte Hauptdarstellerin. Sie ist in fast jeder Einstellung des Films und spielt den kalten Racheengel genauso millimetergenau wie die Traumatisierte, die ganz Wunde ist, unter Tränen. Es wird nicht der letzte Film sein, den sie mühelos trägt. Ekkehard Knörer
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