: Momente sozialer Erfahrung bewahren
In den Frankfurter Adorno-Vorlesungen ging der Historiker Peter E. Gordon den normativen Quellen der Kritik in dessen Werk nach
Von Rudolf Walther
Die vom Frankfurter Institut für Sozialforschung und dem Suhrkamp Verlag getragenen Adorno-Vorlesungen waren in diesem Jahr aus Anlass des 50. Todestages von Adorno seinem Werk gewidmet (siehe taz v. 11. 6. 2019). Referent war Peter E. Gordon von der Harvard University – ein Kenner Adornos.
Seine drei Vorlesungen standen unter dem Titel „Theodor W. Adorno and the Sources of Normativity“, ein zentrales Thema, denn Adorno hat über die Quellen oder die Rechtfertigung seiner radikalen Gesellschafts-, Kunst- und Zivilisationskritik quasi nichts geschrieben. Die normativen Quellen der Kritik müssen also durch genaue Lektüre und Interpretation erschlossen werden. Die erste Vorlesung widmete Gordon der Auseinandersetzung mit einer Lesart von Adornos Werk, die zwar viel Zustimmung findet, die er aber für verfehlt, auf jeden Fall für einseitig hält.
Die philosophischen und gesellschaftskritischen Schriften von der „Dialektik der Aufklärung“ (1944) über die „Minima Moralia“ (1951) bis zur „Negativen Dialektik“ (1966) beruhen auf einer Kritik jener Vernunft, die von gesellschaftlicher Instrumentalisierung, Herrschafts- und Verwertungsinteressen so kontaminiert ist, dass sie sich als Hebel für Wahrheit und Emanzipation hoffnungslos diskreditiert hat. Fabian Freyenhagen bezeichnet diese umfassende Vernunftkritik als „erkenntnistheoretischen Negativismus“, der moderne Gesellschaften als in einen Verblendungszusammenhang verstrickt sieht, aus dem es kein Entrinnen gibt. Gordon hält das für ein Missverständnis, das darauf beruhe, das durchaus vorhandene Interesse Adornos für bewahrenswürdige Momente sozialer Erfahrung in seinen Schriften zu übersehen beziehungsweise zu unterschätzen. Diesem Einwand kann man nicht widersprechen, auch wenn Adornos Hinweise auf „richtiges Leben im falschen“ selten sind und sich vor allem in den Werken und Aufsätzen über Kunst und ästhetische Erfahrung finden.
Gordons Argument, Adorno habe „totalisierender Kritik“ immer widerstanden, ist dagegen wohl etwas zu unkritisch. Im Februar 1942 schrieb Adorno aus den USA an seine Eltern: „Es ist zu spät. (…) Die einzige Chance, den Horror zu überleben (…) ist, dass der Faschismus in Deutschland kollabiert, bevor er hier ausbricht.“ Solche und viele andere Stellen müssten – so Gordon – kontextualisiert, das heißt aus der Zeit und der Lage des überlebenden Emigranten heraus relativiert werden.
Selbst wenn man dies Gordon zugesteht, handelt er sich mit seiner affirmativen Adorno-Lesart das dornenreiche Problem ein, dem Verhältnis und methodischen Status rabenschwarzer Obersätze zu weichen Konzessionen beikommen zu müssen. Solche Konzessionen – etwa die, in Aufklärung und Vernunft überlebe im Glücksfall ein Restlicht, oder die, Philosophie existiere, „um das Versprechen einzulösen, das man im Blick von Tieren erkennen könne“ – wirken fremd in Adornos düsterem Bild der Moderne.
Die Findlinge passen auch schlecht zu Adornos Verständnis von Materialismus. Dieses beruht auf dem „Vorrang des Objekts“, wird aber dadurch konterkariert, dass Adorno energisch auf dem für sein Werk zentralen Begriff des Leidens besteht, „denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt herrscht“ (Adorno).
Adornos radikale Vernunftkritik tangiert auch die Möglichkeit, moralische Normen rational zu begründen. Wenn vernunftgestützter Diskurs keine Gewähr mehr bietet für stringente Begründungen, bleibt nur der Rekurs auf metaphysische Konzepte. Adorno leiht aber nicht einfach Ideen von „drüben“ aus, sondern rüstet sie zu für ihr Überleben im „Säkularen und Profanen“. Er nennt das Verfahren „metaphysische Erfahrung“. Dadurch sollen die Ideen ihren affirmativen in einen kritischen Charakter verwandeln. Adorno suchte damit den Ausweg aus der Sackgasse des Schulmaterialismus, der prinzipiell nicht über die Welt, also das, was nach Wittgenstein der „Fall ist“, hinausdenken kann und der auch über keinen Hebel mehr verfügt, die Welt zu verändern.
Adorno verweist beim Versuch, Materialismus und Metaphysik zu verknüpfen, auf „unbewusstes Wissen“ und begibt sich damit auf dünnes Eis: „Dies ‚Du sollst‘ ist ja ein metaphysisches, ein über bloße Faktizität hinausweisendes Prinzip –, das (…) seine Rechtfertigung eigentlich finden kann nur noch in dem Rekurs auf die materielle Wirklichkeit.“ Die Quelle von Normativität verpuppt sich so im Handstreich zur Rechtfertigung.
In der dritten Vorlesung zeigte Gordon überzeugend, wie Kunstwerke für Adorno utopische Momente, einen Vorschein auf „unbeschädigtes Leben“ oder „den kurzen Blick aus dem Gefängnis“ (Adorno) transportieren. Gordons trefflicher Rettungsversuch belebt die Debatte um Adornos Werk.
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