Preis für die Provinz

Vor 20 Jahren in Zeiten der Multiplexkinos in einer kleinen Stadt ein kleines Programmkino zu eröffnen, war ein Wagnis. Das Scala in Lüneburg aber war erfolgreich. Ein Schwerpunkt liegt auf selten gezeigten deutschen Filmen

Bürgermeisterhaus, Gewerkschaftshaus, Enteignung durch die Nazis: Das Scala, in dem sich heute vier Kinosäle befinden, hat eine bewegte Geschichte Foto: Scala

Von Wilfried Hippen

Die Programmauswahl des Kinos Scala in Lüneburg wird alljährlich prämiert. „Mindestens unter den ersten Zehn“ auf der Liste der ausgezeichneten Kinos sei es jedes Jahr, sagt die Geschäftsführerin Ruth Rogée. 2007 gab es sogar den Preis für das besten Kinoprogramm bundesweit. Und das, obwohl das Scala in einer Kleinstadt mit knapp 78.000 Einwohnern liegt. Neben den im Arthouse-Kino üblichen europäischen Produktionen liegt zudem ein Schwerpunkt des Programms auf deutschen Filmen, die viele andere Programmmacher eher meiden, weil sie nicht so gut laufen. Doch in Lüneburg wird zum Beispiel in dieser Woche in 13 Abendvorstellungen „All My Loving“ von Edward Berger gezeigt. „In 20 Jahren haben wir unser Publikum erzogen“, sagt nochmals Ruth Rogée.

Das Kino wurde im Jahr 2000 eröffnet. Auch das ist ungewöhnlich: Damals wurden kleinere Kinos eher geschlossen als neu gegründet, weil überall Multiplexkinos gebaut wurden. In Lüneburg entstand dagegen durch den Bau solch eines Großkinos erst die Chance, auch ein anspruchsvolles Programmkino in der Stadt zu etablieren. Angesichts der vermeintlich übermächtigen neuen Konkurrenz gab der damalige Betreiber der beiden kleineren Kinos der Stadt auf, eines davon war das Scala. In Lüneburg hatte sich in den 1990er-Jahren eine kleine Szene von Filmbegeisterten entwickelt, die Filme in Kneipen oder open air zeigten und sich im Verein Filmwerkstatt organisierten.

Dazu gehörte auch Ulla Brennecke, die aus einer süddeutschen Kinofamilie stammt und sich danach sehnte, ein eigenes Kino zu betreiben. Zusammen mit Elke Rickert und Ruth Rogée übernahm sie das Scala, ein Kino mit damals drei Sälen in einem der vielen historischen Häuser im Zentrum von Lüneburg. Im 16. Jahrhundert hatten dort viele Bürgermeister der Stadt gewohnt, aus dieser Zeit stammt noch eine Holzdecke, die unter Denkmalschutz steht. Im Scala kann man unter mehr als 400 Jahre alten Holzbalken einen Film sehen und sich darüber wundern, dass zwei eingeschraubte Rauchmelder die Denkmalschützer nicht zu stören scheinen.

In den 1920er-Jahren nutzten die SPD und die Gewerkschaften das Haus als Volkshaus, in den 1930er-Jahren stürmte es die SA, die Nazis enteigneten die Besitzer. Nach dem Krieg wurde es an sie zurückgegeben, in den 1950er-Jahren schließlich wurde ein großer Ballsaal im Erdgeschoss in ein Kino umgebaut. Doch ein großes Kino rechnete sich in den 1970er-Jahren nicht mehr, stattdessen wurden im ersten Stock drei kleinere Kinosäle gebaut.

Auch ein Café gehörte dazu, das allerdings kaum besucht wurde. Nach drei Jahren wurde es geschlossen und der Raum zu einem vierten Kino umgebaut. Seitdem hat das Scala 270 Sitzplätze und es gibt dort mindestens 16 Vorstellungen täglich.

Von Beginn an war das Kino ein Erfolg. Mit Filmen wie „Amelie“ und „8 Frauen“ war 2000 ein gutes Jahr für Programmkinos, in den vergangenen 20 Jahren gab es immer genügend „Brotfilme“, also Kinohits wie „Goodbye Lenin“, „Ziemlich beste Freunde“ oder „Der Junge muss an die frische Luft“, um die Durststrecken mit gutem Wetter, das für Kinomacher immer schlechte Geschäfte bedeutet, zu überstehen.

Vor allem war und ist Lüneburg aber ein guter Kinostandort, weil die Verwaltungsstadt durch ein starkes Bildungsbürgertum geprägt wird und es dort eine Universität gibt.

Die drei Kinogründerinnen sind auch politisch engagiert. Ruth Rogée, in der DDR aufgewachsen und in den 1990er-Jahren „wegen der Liebe“ von Potsdam nach Lüneburg umgezogen, war damals im Landesvorstand der PDS Niedersachsen. Sie und Ulla Brennecke trafen sich zuerst auf einer Lüneburger Wahlveranstaltung von Gregor Gysi.

Die Linke und die Grünen mieten das Kino als Veranstaltungsort, jedes Jahr gibt es politische Sonderprogramme am Internationalen Frauentag und am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Außerdem werden Umweltfilmtage sowie Filmreihen zu Themen wie Gentrifizierung und Frauenrechte veranstaltet. Zurzeit wird etwa bis zum 11. Juli an jedem Donnerstag um 19 Uhr ein Defa-Frauenfilm gezeigt. Der Eintritt ist frei.

Vor allem ist der kleine mittelständische Betrieb aber erstaunlich sozial und demokratisch organisiert. Nachdem Ulla Brennecke in Rente gegangen ist, sind mit David Sprinz und Kevin Beck zwei im Kino ausgebildete Angestellte als Gesellschafter in die GmbH aufgenommen worden. Die 19 MitarbeiterInnen, die fünf verschiedenen Nationalitäten angehören und bei denen eine Frauenquote „nie ein Problem war“ (so Ruth Rogée), treffen sich monatlich zu Teamsitzungen, bei denen sie selbst die Arbeitspläne erstellen. Und jeden Monat gibt es eine Programmsitzung, bei der die vier Gesellschafter gemeinsam entscheiden, welche Filme im Kino gezeigt werden. Ruth Rogée mag kein „Machtwissen“.

An jedem Tag gibt es zwei Vorstellungen für Kinder, die sich nur deshalb halbwegs rechnen, weil das Kino auch für dieses Kinderprogramm jedes Jahr prämiert wird. Disneyfilme sind dabei tabu, was einerseits die regelmäßig gewonnenen Programmpreise erklärt, andererseits aber wohl auch die geringen Besucherzahlen.

Und das Scala ist das einzige Kino in Norddeutschland mit einer Jugendfilmjury der Deutschen Film- und Medienbewertung. Zehn Lüneburger Schüler und Schülerinnen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren sehen sich regelmäßig Kinder- und Jugendfilme an und bewerten sie. Für einen nachhaltigen Geschäftsplan muss man sich auch darum kümmern, dass ein Kinopublikum nachwächst.