Katrin Seddig Fremd und befremdlich: Der Fehler im System ist, dass wir jederzeit unseren Gelüsten nachgehen wollen
Katrin Seddig ist Schrift-stellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Über Pfingsten fuhren wir, wie immer, nach Ostwestfalen, meine Freundinnen und ich, und, wie immer, kauften wir am Abend für dieses lange Wochenende in einem Supermarkt ein. Und da geht es dann los, die Verschwendung, das Wegwerfen, die Müllproduktion. Bereits beim Einkaufen geht das Wegwerfen los. Wenn wir uns überlegen, was wir brauchen, ob das Brot, das wir kaufen, auch reichen wird. Es ist ganz klar, wenn wir den Einkaufskorb betrachten, dass es, alles in allem, mehr als reichen wird, aber haben wir von allem auch so viel, dass wir unseren Gelüsten jederzeit zu vollster Befriedigung nachkommen können?
Und das ist der Fehler in dem System, dass wir immer alles haben wollen, dass wir nicht am Abend die Brotreste mit den Käseresten und den verschrumpelten Radieschen verbrauchen, sondern dass wir jederzeit unseren Gelüsten nachgehen wollen und alles immer verfügbar haben wollen. Und dann bleiben die Sachen im Müll zurück, weil sie nicht mehr ganz frisch waren und nicht unseren Gelüsten entsprachen. So ist es, im Großen, im Supermarkt. Alles muss immer bis zur Stunde der Schließung vorhanden sein. Und kämen wir später und fänden leere Regale vor, in denen nur noch einzelne frische Waren oder gar keine vorhanden wären, weil dieser Supermarkt sein frisches Sortiment zu dieser Stunde abverkauft hätte, wir wären empört.
Und dann geht das noch weiter, denn auch die Bauern, die müssen zuverlässig liefern, sie können nicht sagen, die Eier sind nun mal jetzt alle, oder die Ernte war geringer, die müssen immer zuverlässig ein Produkt liefern, das einer vollkommenen Zuverlässigkeit eigentlich entzogen sein müsste, weil es ein Naturprodukt ist und die Natur recht unzuverlässig ist. Um dem entgegen zu wirken, wird gedüngt und gegiftet und mechanisiert und digitalisiert, damit es alles möglichst unter Kontrolle ist. Himbeeren selbst im Winter, Spargel im Herbst, ist alles zu haben, für die Gelüste des modernen Menschen. Auch wenn den meisten vielleicht langsam dämmert, dass das nicht richtig ist.
Dass auf diese Weise ein stetiger Überfluss in unserer, in der reichen Gesellschaft, produziert wird, der am Ende des Tages weggeworfen wird, weil am nächsten Tag oder am nächsten Montag die frischen Lebensmittel nicht mehr den Frischegrad besitzen, der den Gelüsten der Menschen entspricht. Und so kommt es alles in die Tonne. So kommen unsere Lebensmittel für unseren Pfingsteinkauf, wenn wir abreisen, in die Tonne, weil wir nicht an zwei Tagen altes Brot mit Radieschen essen, sondern auch wieder „was Schönes“.
Wir wollen immer „was Schönes“ essen. Wir haben ja auch keinen Hunger mehr. Aber wollen wir auch noch, dass die Lebensmittel, die wir aus unserer Verwöhnung (und nicht aus dem Hunger) heraus, über haben und am Ende wegwerfen, auch wirklich schlecht werden, dass sie verkommen. Niemand soll diese weggeworfenen Lebensmittel für sich verbrauchen und nutzen. Unseren Müll soll niemand haben dürfen, aus dem einfachen Grund, weil dieser Jemand sich dem Konsum entzieht. Niemand aber darf sich dem Konsum entziehen, auf ihm beruht unsere ganze schöne Welt.
Und um jetzt in dieser Kolumne die Kurve zu kriegen: Ich begrüße den Vorschlag des Hamburger Justizsenators Till Steffen, das Containern endlich straffrei zu machen. Und ja, es schadet möglicherweise den Supermärkten, denn manche Menschen, die ihre Tomaten am Abend umsonst bekommen können, die kaufen sie am Tage möglicherweise nicht. Die, denen es nichts ausmacht, die Tomaten aus einer Mülltonne zu holen. Und warum sollte es ihnen auch etwas ausmachen? Ist es schäbiger, frische und verpackte Lebensmittel aus einem Container zu klauben, als ein System zu erhalten, das nicht nur toleriert, sondern eher sogar darauf beruht, diese Lebensmittel, also sozusagen systematisch, wegzuwerfen? Sind nicht die die Schäbigen, die einen solchen perversen, unmoralischen Überfluss von ihrem Supermarkt erwarten?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen