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Immer der Nase nach

Die neunte Ausgabe des Live-Art-Festivals auf Kampnagel verzichtet erstmals auf ein übergreifendes Thema. Einen roten Faden durch die ganz unterschiedlichen Performances soll man sich selbst suchen

Von Robert Matthies

Auf einer Theaterbühne im Libanon hat die libanesische Aktivistin, Schau­spielerin und Dra­matikerin Hanane Hajj Ali dieses Stück noch nie ungehindert aufführen können. Ausweichen musste sie mit „Jogging“ in Kaffeehäuser oder Galerien. „Das verbindende Element aller meiner Performances im Libanon war der Schock“, sagte sie 2017 während des Edinburgher Fringe Festivals der Tageszeitung The National aus Abu Dhabi. Einmal sei sie nach einer Aufführung gefragt worden, ob sie um ihr Leben fürchte. Im Libanon seien schon Menschen für weniger ermordet worden.

Dabei ist der Ausgangspunkt für „Jogging“ zunächst ganz unverfänglich: Eine Frau Mitte 50 geht täglich joggen. Um Stress abzubauen, um der Entstehung von Osteoporose vorzubeugen, um ihr Übergewicht und ihre Depression im Zaum zu halten. Immer dieselbe Route läuft sie durch Beirut. Dabei beginnt sie, die Stadt mit anderen Augen zu sehen – und entdeckt allerlei widersprüchliche Verbindungen zwischen den beim Work-out ausgeschütteten Neurotransmittern und Hormonen und der permanenten Veränderung der Stadtlandschaft.

Denn so wie etwa Dopamin und Adrenalin Strukturen im Körper zerstören, um andere aufzubauen und Strukturen aufbauen, um andere zu zerstören, erlebt Hanane Hajj Ali die täglichen Umwälzung der Stadt, durch die sie läuft.

Daraus entspinnt sich ein komplexes Spiel mit Identitäten und Rollenzuweisungen, Träumen und Leidenschaften, Hoffnungen und Enttäuschungen. Schließlich wird die Performerin so etwas wie ein Knotenpunkt in einem Netz aus Potenzialitäten, in der sich immer wieder unterschiedliche Figuren und Aspekte der Figur Medea überlagern: ein Ensemble widerständiger Frauen.

Zu sehen ist das intensive Solostück ab Donnerstag übernächster Woche bei der neunten Ausgabe des Live-Art-Festivals auf Kampnagel. Das beginnt ab Mittwoch kommender Woche und verzichtet erstmals auf ein übergreifendes Thema – in den vergangenen Jahren hat es sich unter anderem mit dem Verhältnis von Choreografie und Protest oder dem Format „Festival“ als Spektakel auseinandergesetzt. Diesmal soll sich das Publikum auf das eigene Gespür verlassen und sich selbst auf die Suche nach roten Fäden machen.

Ein paar Anknüpfungspunkte liegen dabei aber glücklicherweise nah: Mit Medea etwa beschäftigt sich auch der US-amerikanische Tänzer und Choreograf Trajal Harrell. Harrel ist vor allem durch seine Serie „Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church“ bekannt geworden, in der er den in der queeren afro- und lateinamerikanischen Klubkultur im New Yorker Stadtteil Harlem entstandenen Tanzstil Voguing und den frühen postmodernen Tanz gegenüberstellt.

In „O Medea“ setzt sich Harrel nun mit Frauenfiguren und sozialen Milieus auseinander, indem er die antike Tragödie mit den persönlichen Geschichten eines fünfköpfigen Chores zusammenführt, um die Figur der Medea von der Idee der Rache und des Zorns zu befreien. Dass Medea ihre eigenen Kinder ermordet hat, ist für Harrel dabei eine Metapher: Tatsächlich töte sie die Ideale der Mutterschaft und des Ehefrauseins, um ihr Potenzial als Frau von der Definition durch Männer zu befreien.

Von dort aus ist es wiederum nicht weit bis Jose Vidals Massenchoreografie „Emergenz“. Gemeinsam mit 22 Tänzer*innen und 60 Laien aus Hamburg sowie 20 Tänzer*innen seiner Company CÍA aus Santiago de Chile möchte Vidal einen kollektiven kreativen Prozess auf die Bühne bringen. Auch hier steht das Chorische im Fokus, im Sinne eines „emergenten“ Ganzen: Wie entstehen durch das Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Einzelelemente Eigenschaften eines Systems oder einer Struktur, die über die Summe der Teile hinausgeht?

Und die Idee, dass man beim Streifzug durchs Festival einfach der eigenen Nase folgen soll, wird im „Supernoseum“ der experimentellen Wiener Theater- und Performance-Kollektive God’s Entertainment und Super Nase & Co ganz konkret ausbuchstabiert: Schon zur Spielzeiteröffnung war das „temporäre Performance-Museum“ mit Neuinterpretationen von Klassikern der Performance-Kunst zu erleben. Das Motto: Sakrosankt ist in der Kunst nichts, lasst der Lust am Dekonstruieren, Vermischen und Attackieren freien Lauf – in der Nase verliert der erhobene Zeigefinger seine Bedeutung.

Mi, 5. 6., bis Sa, 15. 6., Kamp-nagel. Infos und Programm: www.kampnagel.de

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