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Der Pott tanzt

Von Jazz über Indie-Pop bis House und Reggae: Im größten Ballungsraum der Republik gibt es durchaus interessante Open-Air-Festivals in urbanem Ambiente. Nur gehorchen sie anderen Gesetzen als anderswo

Von Christian Steinbrink

Über fünf Millionen Menschen leben im Ruhrgebiet. Auch 2019 ist die Region weiterhin der größte Ballungsraum des Landes, selbst das rasant wachsende Berlin und sein Umland kommen daran mit etwa viereinhalb Millionen Einwohnern nicht heran. Gleichwohl ist das popkulturelle Leben der Region nicht ganz so schillernd bunt und vielfältig wie in der Hauptstadt. So muss sich auch in diesem Sommer wieder zeigen, was ExpertInnen schon seit Jahren beobachten: Open-Air-Festivals können im Ruhrgebiet zwar genauso gut funktionieren wie in vielen anderen Gegenden, sie sind aber eigenen Gesetzen unterworfen.

In den vergangenen Jahren bildete sich in den bevölkerungsreichen Regionen fast überall auf der Welt ein neuer Festivaltrend heraus: Man sprach von urbanen Festivals und meinte damit eine Ausrichtung, die bewusst auf städtische Spielstätten, kurze Anfahrtswege, modische Musikstile für die Masse und ein Publikum setzte, das für drei Nächte mit Katzenwäsche im Zelt zu faul oder zu gesetzt ist. Im Ruhrgebiet, so könnte man meinen, gab es dagegen im ursprünglichen Wortsinn urbane Festivals schon immer. Denn all diese Events, sei es in Oberhausen oder Duisburg, Essen oder Dortmund lagen für die Bewohner der Gegend maximal ein paar S-Bahn-Stationen vom eigenen Bett entfernt.

Arbeit am Publikum

Allerdings war der Trend hier nie trendy, sondern Normalität und sorgte dementsprechend auch nie für eine Welle neuer Besucher. Im Gegenteil: Festivals im Ruhrgebiet mussten sich ihren Publikumszuspruch in den letzten 30 Jahren immer hart erarbeiten. Manchen gelang das besser, anderen schlechter. Immerhin war und ist die Dichte an Open-Air-Veranstaltungen hier nicht so gering wie es beispielsweise bei Club- und Hallenkonzerten im Vergleich zu Köln aussieht, dem ein Stück den Rhein hinauf gelegenen Sehnsuchtsort jedes nordrhein-westfälischen Musikfans.

In diesem Kontext kann das Duisburger Traumzeit Festival als Sisyphos unter den Ruhrgebiets-Events gelten. Denn es versucht seit über 20 Jahren beharrlich, ein Open Air mit musikalischen Ambitionen in der Gegend zu etablieren. Zunächst bildeten Jazz und Folklore die stilistische Grundlage (inzwischen eher beim traditionsreichen Moers-Festival beheimatet), mittlerweile macht das Indie-Pop. Das musikalische Angebot war eigentlich schon immer eine längere Anfahrt wert, die Zuschauerzahlen blieben dagegen wechselhaft, das Festival machte manche Krise durch. Und das, obwohl es mit dem Landschaftspark Nord eine Location vorweisen kann, die 2015 vom britischen Guardian neben dem Park Güell und dem Parc des Buttes-Chaumont zu den zehn besten Stadtparks der Welt gezählt wurde.

In der Tat besitzt das Gelände, ein altes Hüttenwerk, nicht nur für an Industrieromantik Interessierte einen reizenden Charme und darf zweifelsohne als eine der stimmungsvollsten Open-Air-Locations der Republik gelten. Eine besondere Anziehungskraft besitzt die Bühne in der Gießhalle des ehemaligen Hochofens 1, deren Hintergrund tatsächlich so aussieht, als sei hier eben noch flüssiges Roheisen abgestochen worden. Wenn jemand auf die Idee kommt, ein Musik-Open-Air mit Industriekultur verbinden zu wollen, ist das Traumzeit die einzig richtige Wahl.

Die andere Konstante unter den stilistische Grenzen überwindenden Open Airs ist das Dortmunder Festival Juicy Beats. Eine der Qualitäten des im wunderschön verschlungen angelegten Westfalenpark beheimateten Events liegt darin, sich musikalisch immer wieder erneuert zu haben. Die Ursprünge liegen in rhythmusbetonten elektrischen Stilarten von House bis Reggae, mittlerweile haben auch immer mehr HipHop- und Gitarren-Pop-Acts Platz im Line-up.

Die Anzahl der Bühnen des Juicy Beats geht ins Zweistellige, von winzig bis riesig ist alles dabei. Offenherzige Festival-Fans finden hier verlässlich zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Ort, an dem sie zu passender Musik tanzen können. Das goutiert auch ein Publikum, das mittlerweile mehrere Generationen umfasst und anspricht. Die Zuschauerzahlen stiegen dabei stetig, und für Dortmunder Teenager ist das Juicy Beats der Pflichttermin des Jahres, wenn keine Meisterfeier des BVB ansteht.

Open-Air-Festivals

Traumzeit Festival, 14.–16. 6., Landschaftspark Duisburg-Nord. Mit Barbara Morgenstern, Frank Turner & The Sleeping Souls, Hauschka, Isolation Berlin, Julia Holter, Kettcar, Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi, Metronomy, Roosevelt, Stephen Malkmus & The Jicks, Snail Mail, Teenage Fanclub u. a..

Moers-Festival, 7.–10. 6., diverse Spielorte in der Stadt. Mit Acid Mothers Temple, Angelika Niescier New York Trio, Black Midi, Colin Stetson, Greg Fox, Handsome Couple, Knarf Rellöm Arkestra, Peter Evans, Ruins, Sun Ra Arkestra, Tom Zé & Trio, Urban Pipes u. a.

Juicy Beats, 26.–27. 7., Westfalenpark Dortmund. Mit Amilli, AnnenMayKantereit, Antilopen Gang, Bausa, Claptone, Dendemann, Giant Rooks, Hoe_Mies, Kid Simius, Leoniden, OK Kid, Querbeat, Trettmann u. a.

Olgas-Rock, 9.–10. 8, Olga-Park Oberhausen. Mit Buster Shuffle, Eskimo Callboy, Grossstadtgeflüster, The Intersphere, Russkaja, Satanic Surfers u. a.

Pfingst-Open-Air Essen-Werden, 10. 6., Im Löwental. Mit Adam Angst, Banda Senderos, Drens, Goldroger, Luke Noa, Von Wegen Lisbeth u. a.

Way Back When, 31. 5.– 1. 6., Junkyard Dortmund. Mit Altin Gün, Blood Red Shoes, Deerhunter, Gurr, Kikagaku Moyo, L’Aupaire, Moglii, Temples u. v. a.

Neben einer Reihe von reinen Genre-Festivals aus tradierten Stilen wie Heavy Metal, Hardcore, Reggae oder Techno sind es besonders kostenfreie Open Airs, die im Ruhrgebiet verlässlich gut funktionieren. Dabei tut sich neben dem Oberhausener Olgas-Rock besonders das Pfingst-Open-Air in Essen-Werden hervor. Angesichts eines typischer- und nachvollziehbarerweise jugendlichen, eher party- als kunstorientierten Publikums und beständig knapper Mittel ist das Line-up des traditionell am Pfingstsonntag im grünen Essener Süden stattfindenden Festivals aller Ehren wert.

Seit einigen Jahren beherbergt es als stilistischen Kontrast eine elektronische Wiese. Das rockende Programm der Hauptbühne überzeugt aber auch verlässlich durch stilistische Vielseitigkeit, Qualität und einige prominente Namen – für umsonst, das darf man bei der Beurteilung nie vergessen.

Zu den jüngeren Errungenschaften der Festivalszene gehört das Dortmunder Way Back When. Zugleich ist es das Festival, das im Vergleich zu den vorangegangenen Ausgaben 2019 die größte Veränderung erlebt: neues Datum, neue Location, und in Teilen ein neues Konzept. Anstatt in mehreren Clubs im Stadtzentrum findet es dieses Jahr etwas weiter nördlich auf dem Gelände des Junkyard statt, eines ehemaligen Schrottplatzes. Das Line-up speist sich aus diversen Indie-Spielarten und ist derart geschmackvoll besetzt, dass es in Berlin sicher für Furore sorgen würde.

Aber für die Festivals des Ruhrgebiets gelten, wie gesagt, eigene Gesetze, die Wege zum Erfolg sind hier für innovative Popmusik-Open-Airs hinderlicher als an anderen Orten, in denen ähnlich viele Menschen leben. Sie werden stärker als anderswo von Tradition und Verlässlichkeit geprägt. Sie führen im übertragenen Sinne nach wie vor nur über harte Arbeit vor Kohle. Einen erfolgreichen Neustart hätte das Way Back When allein schon für seinen Mut und seine Vision verdient. Es kann der Vielfalt der Musiklandschaft der Region nur guttun.

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