Ausflug in die Servicewüste

Ausspannen auf dem Land? Die Zahl der Urlauber*innen in ländlichen Regionen Deutschlands steigt. Die hohe Nachfrage bringt Jobs, doch Fachkräfte für Restaurants und Hotels fehlen. Mit Idylle allein können viele Arbeitnehmer*innen nichts mehr anfangen

Gute Zeiten im Spreewald-Resort „Seinerzeit“. Chef Raymond Fränkel im Speisesaal Foto: Stefanie Loos

Aus Schlepzig und Berlin Leonie Schöler

Besonders groß ist Schlepzig nicht: Nur eine Hauptstraße führt durch das brandenburgische Dorf inmitten des Spreewalds; sie verbindet eine kleine Kirche, ein Brauhaus und ein Museum miteinander.

In den Sommermonaten reisen dennoch Tausende TouristInnen in den Ort, erkunden per Boot die zahlreichen Spreearme, die das Dorf kreuzen. An diesem Aprilfreitag hat die Hauptsaison eigentlich noch nicht begonnen. Doch angesichts der warmen Frühlingstemperaturen sitzen zahlreiche Menschen im Garten des Brauhauses.

Das Brauhaus gehört zum Hotel „Seinerzeit“. Ursprünglich wurden hier für die Tourist*innen neben Getränken auch Speisen aus der Hotelküche angeboten. Doch seit anderthalb Jahren ist der Restaurantbetrieb tagsüber geschlossen und wird nur noch abends für die Hotelgäste angeboten. Es fehlt das Personal, um die Gäste zu bekochen und zu bedienen. „Unsere Branche ist komplett am Aussterben“, sagt Köchin Michaela Schlag, während sie gefülltes Brot für das Abendessen zubereitet. Mehr als 30 Jahre habe sie in zahlreichen Küchen in ganz Deutschland gearbeitet, bevor sie aus familiären Gründen zurück in ihre Heimatregion zog.

Michaela Schlag sieht schwarz für die Zukunft der Gastronomie- und Tourismusbranche: „Wir verlieren den Nachwuchs. Gerade auf dem Land will hier niemand mehr arbeiten.“ Weil immer mehr junge Leute wegziehen, fehle das Personal, um den Service aufrechtzuerhalten.

Dabei könnte der Tourismus in Deutschland eine wahre Erfolgsgeschichte sein. 478 Millionen Übernachtungen zählte die Branche 2018, im Vergleich zu 2017 ist das ein Plus von 4 Prozent. Bei der Eröffnung der Reisemesse ITB im März in Berlin sprach Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) davon, der Tourismus sei „eine enorme wirtschaftliche Chance für Wachstum und Wohlstand für alle Menschen auf diesem Planeten“.

Der Tourismus ist eine der wachstumsstärksten Branchen der Wirtschaft. Laut Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums wird der Inlandstourismus stärker und macht gegenüber dem Auslandstourismus einen Marktanteil von 82 Prozent aus. 2012 bis 2018 stieg die Zahl der Inlandsübernachtungen von 338 Millionen auf 389,9 Millionen - ein Plus von rund 15 Prozent. Gleichzeitig buchen die deutschen Touristen ihre Reisen kurzfristiger und mit kürzerer Aufenthaltsdauer. Verreisten sie 1993 im Schnitt noch 3,8 Tage, sind es 2018 nur 2 Tage. Aktuell machen Städtereisen 41 Prozent des inländischen Gesamttourismus aus. (taz)

Doch gerade dieses Wachstum stellt sich in Deutschland zunehmend als Problem heraus: Immer mehr Stellen werden geschaffen, die letztendlich unbesetzt bleiben. Aktuell arbeiten 12 Prozent der Beschäftigten im Tourismusbereich. Doch die Zahl sinkt. Laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) zur Ausbildung 2017 konnten 57 Prozent der Betriebe ihre Ausbildungsstellen nicht besetzen. Der Durchschnitt aller Branchen beträgt 34 Prozent. Kein anderer Wirtschaftszweig hat derartige Probleme, Nachwuchs zu finden.

Diese Entwicklung trifft die ländlichen Regionen am härtesten. Ausgerechnet dort, wo die Tourismusbranche meist der größte, oftmals einziger Arbeitgeber ist. Die Folge: Immer mehr Betriebe machen dicht, weil sie der hohen Nachfrage an Dienstleistungen nicht mehr nachkommen können.

In Schlepzig arbeiten fast alle der 600 Einwohner*innen im Tourismus. Sie vermieten im Sommer Paddelboote, betreiben kleine Imbisse oder bieten Wasserwanderungen an. Im Jahr kommen um die 12.000 Tourist*innen, schätzt das Statistische Bundesamt. Doch die örtliche Hotel- und Gastronomiebranche wird der Nachfrage an Dienstleistungen nicht mehr gerecht, weil es an gelerntem Fachpersonal fehlt.

Raymond Fränkel, der Direktor des Hotels Seinerzeit, ist überzeugt, dass es die Rahmenbedingungen sind, die junge Leute davon abschrecken, in der Tourismus- und Gastronomiebranche zu arbeiten. 50 Personen sind momentan in seinem Hotel angestellt. Eigentlich müssten es noch um die 15 mehr sein, um alle Dienstleistungen anbieten zu können. „Nur noch wenige wollen abends, am Wochenende oder an den Feiertagen in so körperlich anstrengenden Jobs wie Kellner oder Köchin arbeiten.“

Wer doch dazu bereit ist, ziehe eher in größere Städte wie Potsdam oder Berlin – weg aus den strukturschwachen Regionen im ländlichen Brandenburg. „Dieses Jahr haben wir noch niemanden für eine Ausbildung gewinnen können“, erzählt Fränkel, der die Ratlosigkeit in seiner Stimme kaum verbergen kann. Weder für den Hotelbetrieb, den Service, noch für die Küche sei Nachwuchs gefunden worden.

In Schlepzig im Spreewald geht es gemächlich voran – per Trecker oder Fahrrad Foto: Stefanie Loos

Die Arbeitszeiten seien natürlich hart, sagt auch Michaela Schlag. Zudem sei der Lohn nicht mit dem vergleichbar, was eine studierte Juristin oder ein Beamter verdienen. Aber nicht jeder sei zum Studieren gemacht. Das Handwerk verliere in ihren Augen zunehmend an Ansehen und damit an Tradition. Die hochgewachsene Köchin berichtet auch von ihrer Erfahrung als Frau in der Gastronomiebranche. Oftmals würden Frauen weniger verdienen, die in der Gastronomiebranche arbeiten.

„Dazu kommt ja noch: Im Grunde musst du dich als Frau zwischen Dienstleistung und Kindern entscheiden.“ Solange Kindererziehung immer noch Frauenaufgabe sei und die Betreuung in Kindergärten wenig flexibel, wäre ein Job im Service insbesondere für Alleinerziehende keine Option. „Wenn du dein Kind nur zwischen 9 und 16 Uhr betreuen lassen kannst und um 17 Uhr die Schicht beginnt, bist du raus. Aufteilen kann man sich ja nun mal nicht.“ Ein Großteil potenzieller Arbeitskräfte ginge damit verloren. Die Branche habe es nicht geschafft, Frauen entsprechend zu fördern.

Mehrere Restaurants und Hotels aus Brandenburg, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern, die ihren Betrieb teilweise oder sogar ganz einstellen mussten, haben mit der taz gesprochen. „Aktuell sind wir personell gut aufgestellt. Aber das kann in einem Monat schon wieder anders aussehen“, berichtet Mandy Kleemann, Geschäftsführerin des Restaurants „Die Drogerie“ im südbrandenburgerischen Senftenberg. Über einen Lieferanten habe sie davon erfahren, dass im Umland ein Koch eine neue Stelle suche, und ihn sofort eingestellt – ein „glücklicher Zufall“, wie Kleemann betont.

Einige Kilometer weiter in der kleinen Kreisstadt Luckenwalde hatte Restaurantbesitzer Raymon Ummels weniger Glück: Sein Steakhaus musste er vor drei Monaten schließen – wegen Personalmangel. „Das bedeutet eigentlich den finanziellen Ruin“, sagt Ummels, der trotzdem einen weiteren Versuch startet: Aktuell baut er sein Restaurant um – diesmal setzt er auf gehobene deutsche Küche – und hofft, dass er künftig genügend Personal findet. Sonst wird er erneut schließen müssen – das Ende einer über 30-jährigen Karriere im Gastronomiegewerbe.

Köchin Michaela Schlag in ihrer Küche im Spreewald-Resort „Seinerzeit“ Foto: Stefanie Loos

So wie den Kolleg*innen in Brandenburg geht es auch Rita Reinhard, die mit ihrer Familie das Hotel Quisisana in Oberhof führt. Dies liegt mitten im Thüringer Wald, gerade mal 1.600 Menschen leben hier. Oberhof ist nach Erfurt und Weimar das beliebteste Reiseziel Thüringens. Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen reihen sich eng aneinander. 34 Stück sind es insgesamt, die 2018 gut 364.000 Gäste beherbergten. Das stärkste Zugpferd für den Tourismus in Oberhof ist der Wintersport. Es gibt zahlreiche Anlagen und Rennstrecken für Wintersportler*innen, regelmäßig finden internationale Wettbewerbe wie der Biathlon-Worldcup statt.

Doch anders als vor einigen Jahren buchen die Tourist*innen heute spontan und bleiben oft nur für ein verlängertes Wochenende. „Die Leute schauen sich den Wetterbericht an und entscheiden daran, ob sie für ein paar Tage raus in die Berge fahren wollen“, sagt Rita Reinhard.

Trotzdem boomt der Tourismus. Umso mehr überrascht es, dass auch dort kaum jemand in der Branche arbeiten möchte. Weil sie keine Kellner*innen finden, musste das Quisisana im Frühjahr 2018 den Restaurantbetrieb schließen – nach 25 Jahren. „Eigentlich wollten mein Mann und ich hier noch zwei Jahre weitermachen, bevor wir in Rente gehen.“ Auf die Stellenanzeigen im Internet und in regionalen Zeitungen gab es keine Bewerber*innen.

Zwei junge Frauen, die im Hotel eine Ausbildung beginnen sollten, entschieden sich letztendlich dagegen und nahmen einen Bürojob auf. „Wer will schon noch abends, am Wochenende und an Feiertagen arbeiten, für das branchenübliche wenige Geld und in so einem kleinen Ort wie Oberhof“, sagt Reinhard resigniert. Die Tourist*innen strömen weiterhin herbei – insbesondere die jüngeren Einheimischen ziehen weg oder arbeiten in einer der größeren Städte der Region, in Erfurt, Gotha oder Ilmenau.

Michaela Schlag, Köchin im „Seinerzeit“

Als Lösung will die Branche jetzt vermehrt auf Fachkräfte aus dem Ausland setzen. In Brandenburg wurden bis vor einigen Jahren polnische Fachkräfte angeworben, doch mittlerweile ist das Personal auch im Nachbarland knapp. Eine größere Rolle spielt deshalb die Integration von Geflüchteten. „Mittlerweile arbeitet fast jeder fünfte Geflüchtete mit einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz im Gastgewerbe“, sagt Alexander Schirp, Geschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg. Auch Fachkräfte aus Südeuropa, wo die Jugendarbeitslosigkeit besonders groß sei, könnten sich über europäische Sprach- und Förderprogramme auf Ausbildungsplätze bewerben.

Zusätzlich bemühe man sich, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, wie durch Zuschüsse bei den Fahrtkosten, ergänzt Carsten Bönstrup von den Unternehmensverbänden Brandenburg.

Nicht alle sind davon überzeugt: Auf lange Sicht werden vor allem Familienbetriebe das Nachsehen haben, meint Raymond Fränkel vom Hotel „Seinerzeit“ zu den Ideen aus der Branche. Mittelständische Betriebe wie sein Hotel werden auch zukünftig Probleme haben, Stellen zu besetzen und alle Dienstleistungen anzubieten. Wenn sich nicht grundlegend die ländliche Infrastruktur verändert und auch für jüngere Menschen wieder attraktiv wird, werden Arbeits- und Ausbildungsplätze vermutlich auf lange Zeit unbesetzt bleiben.