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Archiv-Artikel

Der große Frust der Ostler

Der Osten Deutschlands braucht nicht noch mehr Autobahnen – sondern die Initiative von Menschen, die gerne hier leben

VON PHILIPP DUDEK

Edmund Stoiber hat Recht. Die Menschen in Ostdeutschland sind frustriert. Seit 15 Jahren werden ihnen Arbeit und eine Angleichung der Löhne an Westniveau versprochen. Heute gibt es in Mecklenburg-Vorpommern Dörfer, in denen jeder Zweite arbeitslos ist. Der Aufbau Ost ist gescheitert und trotzdem wird vor jeder Wahl das Aufbau-Mantra wiederholt. „Unsere Maßnahmen für mehr Wachstum und Beschäftigung werden dem Osten neuen Schwung verleihen“, steht da zum Beispiel in dem gemeinsamen Wahlprogramm von CDU und CSU. Das ist das Programm, mit dem auch der bayerische Ministerpräsident Stoiber die Stimmen der Frustrierten gewinnen will. Große Sachen stehen da drin: Förderung der Hochtechnologie und der weitere Ausbau der Infrastruktur beispielsweise. Am Ende sind wieder alle beleidigt.

Am liebsten sofort umkehren

Der Aufbau Ost der vergangenen Jahre hat die Menschen im Westen genauso frustriert wie die Menschen im Osten Deutschlands. Die einen sehen ihr Geld versickern, die anderen fühlen sich deklassiert, weil sie auf die Gaben angewiesen sind. Im Westen der Boom-Zentren Leipzig und Dresden gibt es Regionen, in die sich keine Touristen und keine Unternehmer verirren. Merseburg hat einen schönen Dom und eine ausgestorbene Innenstadt. Hier schließen die Geschäfte selbst wochentags um 18 Uhr, und wer am Bahnhof aussteigt, will am liebsten gleich wieder einsteigen. Ein paar Jung-Nazis hängen am Bahnsteig rum und auf dem Bahnhofsvorplatz sitzen schon um zehn Uhr morgens die ersten Männer mit Bierflaschen in der Hand. Den Osten, über den Harald Schmidt und Stefan Raab regelmäßig herziehen, gibt es tatsächlich. Investieren will hier keiner, die Hochtechnologie fördern auch nicht.

„Nach 15 Jahren und sehr viel Geld müssen wir feststellen, dass wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben“, sagt Peter Hettlich. „Die Angleichung des Lebensstandards ist nicht in Sicht. Im Durchschnitt sind rund 20 Prozent der Menschen in Ostdeutschland arbeitslos.“ Hettlich ist Wossi. In Köln aufgewachsen und dann nach Torgau bei Leipzig gezogen. Jetzt sitzt er für die Grünen im Bundestag und ist Sprecher der grünen Arbeitsgruppe Ost. Wie alle echten Wossis findet Hettlich den Osten gut. „Viele Westdeutsche, die über den Osten schimpfen, waren noch nie drüben“, sagt er zum Beispiel. Und: „Die Leute im Osten gefallen mir besser. Die sind zäher und kreativer als die Wessis.“

Politisch tritt Hettlich für eine Umstrukturierung des Aufbaus Ost ein. Weg von Infrastrukturmaßnahmen und Gießkannenförderung, hin zur gezielten Förderung wichtiger Wirtschaftsprojekte. Auch Bildung und Forschung hätten dringend ein paar Förder-Euros nötig, findet er. „Wir müssen künftig besser darauf achten, wo das Geld hinfließt. In den neuen Bundesländern haben wir bereits eine ausreichend gute Infrastruktur. Großinvestitionen wie BMW oder DHL, für die man einen weiteren Ausbau rechtfertigen könnte, wird es künftig nicht mehr geben.“

Abends auf die leere Autobahn

So etwas hören die Frustrierten gar nicht gern. Manfred Stolpe zum Beispiel. „Infrastrukturpolitik ist Standortpolitik, die den Unternehmen direkt zugute kommt“, hat der Bau- und Verkehrsminister noch vor kurzem gesagt. Tatsächlich kommt die Infrastrukturpolitik aber eher einem Heer von arbeitslosen Jugendlichen zugute, das Abends aufgemotzte VW Golfs über leere Autobahnen stiefelt. Die A38 ist so ein Fall von Asphalt gewordenem Aufbau Ost. Vierspurig ausgebaut, moderne Raststätten , keine Geschwindigkeitsbegrenzung – und kein Lkw auf der Straße. 20 Kilometer hinter Leipzig endet die Straße vor einer Betonbarriere. Unternehmen, die man beliefern könnte, gibt es hier nicht. In ihrem Wahlprogramm bezeichnet die SPD Infrastrukturmaßnahmen trotzdem als „Herzstück des Aufbaus Ost“.

Dabei kam die von der Bundesregierung eingesetzte Dohnanyi-Kommission schon vor einem Jahr zu dem Schluss, dass der Standort „neue Länder“ in seiner Infrastruktur bereits heute wettbewerbsfähig ist. Die Kommission unter dem ehemaligen Hamburger Ersten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi forderte eine Kursänderung im Aufbau Ost. Mittel aus dem mit 156 Milliarden Euro dotierten Solidarpakt II sollten demnach verstärkt für gezielte gewerbliche Investitionen verwendet werden und nicht mehr für die Infrastruktur. Stolpe lehnte ab. Dohnanyi war frustriert: „Das Schwadronieren über frustrierte Ossis ist das Ergebnis des Verschweigens der wirklichen Problematik“, sagte er am Montag der Sächsischen Zeitung. „Es fehlt in allen Parteien an einem wirklich strategischen Ansatz für die Lösung dieses wichtigsten deutschen Problems.“

Das Problem lösen die Menschen in Ostdeutschland auf ihre Weise: Sie hauen ab. „Über kurz oder lang wird es dem Osten an qualifizierten Fachkräften fehlen“, sagt Joachim Ragnitz vom Institut für Wirtschaftsförderung in Halle (IWH). Der Osten blutet aus. Es bleiben diejenigen zurück, die sowieso keine Hoffnung mehr auf eine bessere Zukunft haben. Junge, gut ausgebildete Menschen bleiben eben in der Regel nicht in Halle, Torgau oder Dresden, sondern gehen nach München, Frankfurt oder Hamburg. Der Osten verliert potenzielle Eltern und die Keimzelle einer neuen bürgerlichen Schicht. „In Ostdeutschland fehlen 100.000 Unternehmen – und es fehlen die Typen, die diese Unternehmen gründen wollen“, sagt der Grüne Hettlich. Um die Leute zu halten, empfiehlt IWH-Mann Ragnitz die Zahlung konkurrenzfähiger Löhne. „Damit ist allerdings nicht unbedingt der gleiche Lohn wie im Westen gemeint – da sind schließlich die Lebenshaltungskosten höher.“ Nach Angleichung des Lebensstandards klingt das nicht.

Es sind die Familien

Reine Maloche und das Streben nach gleichen Lebensbedingungen wird den Osten also nicht sanieren. Entscheidend für die Zukunft Ostdeutschlands werde dagegen der Ausbau des Bildungssektors und der Familienförderung sein, glaubt Hettlich. „Arbeitsplätze folgen vorrangig privaten Investitionen“, heißt es im Dohnanyi-Report. Nicht staatliche Subvention, sondern die Initiative der Menschen, die gerne im Osten leben und arbeiten wollen, könnte also die Arbeitsplätze schaffen, die so dringend gebraucht werden.

In Leipzig und Dresden ist das schon gelungen. Die Städte zählen zu den wenigen im Osten, die die Abwanderung stoppen konnten. An den Universitäten schreiben sich Jahr für Jahr mehr Studenten ein. Es gibt viele Kneipen, keine Sperrstunde und keine Jung-Nazis, die am Bahnsteig rumhängen. Leipzig ist der Aufbau Ost im Kleinen. Erfolg und Niederlage liegen dicht beieinander. In der Südvorstadt findet man keinen Parkplatz mehr. Das Viertel boomt. Studenten, Werbemenschen und Rechtsanwälte wohnen hier. Es gibt Kneipen und Theater. Weiter im Westen führt eine Ausfallstraße durch Lindenau. In diesem Stadtteil wurden für viel Geld der Marktplatz saniert und neue Straßen angelegt – dem kleinen Off-Theater wurden dagegen die Fördermittel gekürzt. Früher gab es hier mal einen Karstadt. Jetzt gibt es niemanden mehr, der hier einkaufen würde. Lindenau ist das Viertel der Frustrierten. Im benachbarten Grünau wohnen die Jugendlichen ohne Perspektiven. Diejenigen, die Ausländer anpöbeln und NPD wählen. Den Streetwork-Initiativen wurden die Gelder gekürzt, die Plattenbauten wurden teuer saniert. Diejenigen, die es sich leisten können, sind in andere Stadtteile gezogen – oder gleich nach München, Frankfurt oder Hamburg.

Kulturangebot statt Westlohn

Damit sich die Menschen im Osten wieder wohl fühlen und auch bleiben, ist eine Angleichung der Wirtschaftskraft und Lebensverhältnisse vielleicht nur zweitrangig. Ein funktionierender Kulturbetrieb, gute Hochschulen und Universitäten sowie attraktive Forschungsstätten sind immer ein Anreiz zu bleiben – auch wenn die Löhne niedriger und die Straßenbahnen älter sind. Der unter Rot-Grün vorangetriebene Stadtumbau Ost ist ein erster Schritt, aus Geisterstädten bewohnbare Lebensräume zu machen. Zwischen leer stehenden Häusern und Bau- und Investruinen fühlt sich niemand wohl, selbst wenn er einen Job hat. „Und was den Frust angeht: Darüber müssen wir nicht weiter nachdenken. Da sind wir schon lange einig Vaterland“, sagt Hettlich, der Wossi.