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„Viele trans Menschen trauen sich nicht, sich zu outen“

Am Hamburger UKE haben Transsexuelle eine Anlaufstelle, die sie auf dem schwierigen Weg in eine neue Geschlechteridentität begleitet. Denn mit den körperlichen Veränderungen sind meist nicht alle Probleme gelöst

Interview Marco Carini

taz: Herr Nieder, wie sieht die Arbeit der Spezialambulanz für Sexuelle Gesundheit und Transgender-Versorgung aus?

Timo Nieder: Trans-Menschen kommen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten zu uns. Manche sind noch unsicher, in welchem Geschlecht sie leben wollen, und suchen Unterstützung, um ihren Weg zu finden. Andere haben schon lange in einer Geschlechtsrolle gelebt, die abweicht von der, die ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Allerdings merken sie, dass dieser Geschlechtsrollenwechsel nicht ausreicht und dass sie auch ihre körperlichen Geschlechtsmerkmale ändern müssten. Dann begleiten wir sie auf diesem Weg.

Sie bieten gesundheitliche Beratung und psychotherapeutische Unterstützung an?

Wir nehmen uns die Zeit, um wirklich zu schauen, was hilfreich ist. Der Satz: „Ich möchte als Mann leben“ kann vieles meinen. Bedeutet er, ich brauche einen Bart? Heißt das, meine Stimme soll tief sein? Oder heißt das, ich brauche einen Penis und eine flache Brust? Die Frage, was brauche ich konkret, um mein Geschlecht so leben zu können, dass ich mich damit wohl fühle, ist häufig weniger klar als die Frage, fühle ich mich als Mann oder als Frau.

Doch mit den körperlichen Veränderungen ist Ihre Arbeit nicht abgeschlossen.

Für uns ist die Nachsorge sehr wichtig. Das eine ist, dass jemand gut auf die körperlichen Veränderungen vorbereitet und mit der jeweiligen Entscheidung sicher ist. Das andere ist, dass auch das Umfeld die Veränderung mitträgt. Es sollte im Vorfeld klar sein, was sich durch die Behandlung verbessern kann und was sich nicht verändern wird. Manche Probleme, die mit dem Geschlecht vielleicht nicht viel zu tun haben, lassen sich durch eine Hormonbehandlung oder chirurgische Eingriffe nicht lösen. Hierbei bedarf es dann psychotherapeutischer Unterstützung.

Wie viele Trans-Personen werden derzeit von Ihnen betreut?

Im Jahr 2018 wurden am UKE insgesamt 630 Trans-Personen behandelt. Bei uns in der Spezialambulanz in ständiger Betreuung haben wir etwa 350 Trans-Personen, die unterschiedlich häufig kommen, von wöchentlich bis monatlich. Manche haben auch zusätzlich eine wohnortnahe Psychotherapie.

Wollen mehr Männer Frauen werden oder mehr Frauen Männer?

Das verändert sich. Bis zur Jahrtausendwende scheint es mehr Trans-Frauen als Trans-Männer gegeben zu haben. Neuere Zahlen weisen allerdings darauf hin, dass Menschen aus dem trans-männlichen Spektrum, das heißt von Frau zu Mann, häufiger professionelle Hilfe suchen. Die vorliegenden Zahlen weisen insbesondere darauf hin, dass mehr Jugendliche ihr weibliches Geburtsgeschlecht ablehnen.

Wie hat sich der wissenschaftliche Blick auf Trans-Personen verändert?

Bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts war in der Wissenschaft die Frage vorherrschend, wer ist wirklich transsexuell und wer nicht? Dieser Blick hat sich – zum Glück – sehr verändert, da diese Frage ohnehin die betreffenden Menschen nur selbst beantworten können. Was nicht mehr passieren soll ist, dass Ärzt_innen und Psychotherapeut_innen entscheiden, wer trans ist und wer nicht. Der Blick richtet sich heute mehr darauf, wie Trans-Menschen geholfen werden kann, ihr individuelles Geschlecht so leben zu können, dass sie sich damit identifizieren und dass der Leidensdruck geringer wird sowie die Lebensqualität sich bestenfalls erhöht.

Und der gesellschaftliche Blick?

Die Zunahme der medialen Präsenz dieses Themas führt dazu, dass heutzutage viele Menschen Begriffe wie Transsexualität, Transgender oder Trans schon einmal gehört haben und auch etwas damit anfangen können. Insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen existiert eine viel größere Akzeptanz, dass es Trans-Personen gibt, und dass es kein Problem sein muss. Das Bild ist allerdings oft noch verzerrt. Viele denken beim Thema Transgender eher an Drag Queens wie Olivia Jones, also Männer, die Travestie machen – was nichts mit Trans oder Transsexualität zu tun hat. Dieses Bild wird vielen Trans-Menschen nicht gerecht, die nicht als Trans auffallen wollen.

Was sind die zentralen Themen einer psychotherapeutischen Begleitung von Menschen, die ihr Geschlecht hormonell und operativ verändern wollen?

Es geht oft um die Stärkung von Selbstwert, Identität und Autonomie, beispielsweise um die Frage, wie kann ich dazu stehen, dass ich trans bin, wie kann ich damit umgehen, dass daraus für mich ein gut lebbarer Weg wird und kein Makel. Wie kann ich offen damit umgehen? Unsere Erfahrung zeigt, dass es wichtig ist, die Transition nicht komplett verheimlichen zu müssen, da es sich um einen wichtigen Teil der Lebensgeschichte handelt. Gleichzeitig ist es auch ein Teil der Privatsphäre, der besonderen Schutz bedarf. Aber nicht nur das Trans-Sein kann sich auf die Psyche auswirken, auch die hormonellen und chirurgischen Behandlungen. Mit diesen Veränderungen umgehen zu lernen und auch mit den veränderten Reaktionen des sozialen Umfelds auf einen selber – all das sind wichtige Themen.

Timo Nieder39, leitet am UKE Hamburg die Spezialambulanz für Sexuelle Gesundheit und Transgender-Versorgung. Wissenschaftlich beschäftigt er sich mit den problematischen Auswirkungen von Heteronormativität, insbesondere im Bereich von Trans*/Transgender und sexuellen Orientierungen.

Welchen Diskriminierungen und Vorurteilen sind solche Menschen Ihrer Erfahrung nach ausgesetzt?

Das fängt auf dem Schulhof an, wenn ein Junge von Mitschülern beschimpft wird, wenn er sich nicht typisch jungenhaft verhält. Der hört vielleicht „Schwuchtel“ oder ein anderes Schimpfwort, das eher auf eine sexuelle Orientierung Bezug nimmt. Zudem gibt noch unzählige Situationen, in denen Menschen ihr Geschlecht auf eine von zwei Möglichkeiten festlegen müssen: Bei der Wohnungssuche, bei Bestellungen und Buchungen im Netz. Das passt für viele nicht oder sie sind unsicher, ob sie schon das gefühlte Geschlecht reinschreiben dürfen. Und das geht bei der Jobsuche beziehungsweise in der Berufswelt weiter. Größere, vor allem internationale Unternehmen haben Richtlinien, wie mit Mitarbeitenden umzugehen ist, die sich als trans outen. Es gibt aber auch bemerkenswerte Situationen, wenn sich die Chefin oder der Chef hinter die Trans-Person stellt, und das auch Teil der Unternehmenspolitik wird. Aber das ist noch längst nicht überall so. Viele Trans-Menschen trauen sich nicht, sich zu outen, aus Angst davor, gemobbt zu werden oder den Job zu verlieren.

Wie zufrieden sind Menschen, die ihr Geschlecht operativ haben verändern lassen? Entsprechen sich Erwartungen und Ergebnisse?

Es gibt da zwei Kernaspekte: Das erste ist natürlich, wie qualitativ gut sind die vorgenommenen Eingriffe. Bei der Genitalchirurgie geht es immer auch um die Frage: Bleibt der Orgasmus erhalten? Und bin ich mit den Ergebnissen ästhetisch zufrieden? Das Zweite ist aber: Wie gut sind meine psychische Gesundheit und mein soziales Umfeld. Wenn das soziale Umfeld mitgeht, dann sind die Menschen häufig sehr zufrieden nach den Behandlungen.

Was muss sich in der Gesellschaft verändern, um Trans-Personen das Leben leichter zu machen?

Je weiter sich die Gesellschaft öffnet für geschlechtliche Formen, die nicht eindeutig männlich oder weiblich sind, ohne dass daran sofort ein Makel festgemacht wird, desto eher wird es auch Trans-Menschen geben, die mit weniger Behandlungen gut leben können. Schließlich geht jede Behandlung auch mit einem gewissen Komplikationsrisiko einher. Bei der aktuellen gesamtpolitischen Lage steht allerdings zu befürchten, dass wir den Zenit der Liberalität im Zusammenhang mit Geschlecht und Gender bereits überschritten haben.

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