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Archiv-Artikel

Die Nacht des 19. 2. 2002

ZWEIFEL Yaron G. ist Israeli. Er wollte dabei sein. Auch bei der Armee. Auch, als er töten sollte. Heute denkt er ganz anders als damals

Das Schweigen brechen

■ Die Organisation: Breaking the Silence – auf Hebräisch Schovrim Schtika – ist eine Bürgerrechtsbewegung, die 2004 von israelischen Soldaten gegründet wurde. Sie hat seitdem mehr als 700 Zeugenaussagen israelischer SoldatInnen gesammelt, die in den besetzten palästinensischen Gebieten Dienst tun. Die interviewten Soldaten und Exsoldaten bleiben meist anonym, da sie sich vor Druck der israelischen Rechten und offizieller militärischer Stellen fürchten. Alle Fakten werden nach strengen Regeln verifiziert

■ Das Anliegen: Jehuda Schaul gründete Schovrim Schtika nach seinem Militärdienst in Hebron, um seine Erlebnisse als Soldat zu verarbeiten. Durch die Zeugenberichte und Ausstellungen soll auch die israelische Öffentlichkeit über das Vorgehen der Armee in den palästinensischen Gebieten aufgeklärt werden.

AUS HAMBURG STEFAN REINECKE

Yaron G. ist 31 Jahre alt, ein sportlicher Typ. Braune Augen, dunkle Haare, Dreitagebart. Ein gut aussehender Mann. Er strahlt jene unkomplizierte Direktheit aus, die viele Israelis auszeichnet. Yaron G. sitzt in seiner WG-Wohnküche in Hamburg-Altona, die aussieht wie viele andere deutsche WG-Wohnküchen auch. Das Viertel ist von Studenten, Künstlern und mittlerweile Besserverdienenden bevölkert. Ein bisschen Multikulti, viele Ökoläden, ein paar Galerien. Und alles friedlich, weltoffen, relaxt. Von draußen dringt Kindergeschrei in die Küche. Nur die Geschichte, die Yaron G. erzählt, passt nicht in diese nette alternativ-bürgerliche Szenerie. Es geht um seine Zeit in der israelischen Armee. Wie er glaubte, ein Held zu sein, und wie er sich heute dafür schämt.

In G.s Leben gibt es wenig Außergewöhnliches. Er kommt aus einer liberalen israelischen Familie. Seine Eltern haben sich mühsam aus dem streng religiösen Korsett ihrer Herkunft befreit und meist eher links gewählt, Arbeitspartei. In der Highschool, mit 18 Jahren, sagt er, „wurde nur über zwei Dinge geredet: den Führerschein und was man im Militär werden will.“ Er wollte die Militärzeit nicht bloß irgendwie hinter sich bringen, er war ehrgeizig wie die meisten seiner Freunde.

Yaron G. wurde Elitesoldat der Israel Defense Forces. Dreieinhalb Jahre in der israelischen Armee, 1999 bis 2002. Er gehörte zu Jahalom, einer Pioniereinheit, die auf Sprengstoff spezialisiert ist. G. war stolz auf sich. „Es war eine Ehre, in dieser Einheit zu sein.“ Weil er überzeugt war, dass die IDF das Land vor palästinensischen Terroristen schützt. Weil er damals, mit 20, träumte, ein Held zu werden. Weil es nützlich für die spätere Berufskarriere ist, Elitesoldat zu sein. Und weil er immer tat, was die anderen, was seine Freunde taten.

Das Leben beim Militär war nicht übel. Normale Soldaten mussten Dienst an Checkpoints im Westjordanland schieben und sich mit Palästinensern herumschlagen. Nachts Dörfer durchkämmen, Häuser durchsuchen, das Geschrei weinender Kinder ertragen. Die hässliche Alltagsarbeit einer Besatzungsarmee. „Dirty work“, sagt G.

Er lässt den Blick durch die Wohnküche schweifen, nimmt einen Schluck Wasser und sagt, dass er 2002 so redete. Dass er jemanden referiere, mit dem er nicht verwechselt werden will. Yaron G. existiert doppelt: als reflektierter Erzähler 2012 in Hamburg-Altona und als Soldat 2002, der so war wie alle, der dachte wie alle und redete wie alle.

„Was wir machten, war sexy“, sagt er. So nannten sie es damals: sexy. Sie entschärften Minen und Sprengkörper und legten Sprengfallen, wo Feinde vermutet wurden. Ein sauberer Job, ohne Kontakt mit dem Gegner. Einen Haarriss bekam Yaron G.s Bewusstsein, auf der Seite der Guten gegen die Bösen zu kämpfen, als die Sache mit seinem Freund passierte. Ein israelischer Militärstützpunkt im Westjordanland wurde beschossen. Die palästinensischen Schützen verbargen sich hinter einem Sandhaufen und Zementsäcken. Sein Freund deponierte dort nachts eine als Zementsack getarnte Bombe, die bei Berührung hochgehen sollte. Ein normaler Auftrag, nichts Besonderes. Am nächsten Morgen spielten dort zwei palästinensische Kinder. Sie wurden von der Bombe zerfetzt. Die israelische Armee bestritt, damit etwas zu tun zu haben. „Warum lügen sie?“, fragte sich Yaron G. Wenn hier, wo noch?

Dann kam der 19. Februar 2002. Die Nacht, die vieles ändern sollte. In Ein Arik, nahe Ramallah, 30 Kilometer nördlich von Jerusalem, hatte ein palästinensischer Attentäter an einem Checkpoint sechs israelische Soldaten erschossen. Es gab viele solcher Anschläge damals, es war die Zeit der zweiten Intifada.

G. war auf dem Weg zu einem Training, als der Einsatzbefehl kam. Der lautete: die palästinensischen Polizisten ausschalten, die den Attentäter mit Waffen versorgt und durch ihren Checkpoint hatten passieren lassen.

Yaron G. sagt: „Ich war glücklich, dass ich ausgewählt wurde, um diese Leute zu töten.“ Es war sein erster richtiger Kampfeinsatz, endlich mehr als nur Bomben deponieren. Er war überzeugt, dass er in dieser Nacht etwas „Cooles“ tun würde. Um Rache für die sechs toten Kameraden ging es nicht. „Soldaten sterben. So ist das. Ich hatte kein besonderes Gefühl für sie“, sagt er.

G. hat deutsche Freunde. Keiner von ihnen weiß, was er damals getan hat. Er verschweigt es

Ein Bus brachte sie in die Nähe des Einsatzortes: einen palästinensischen Kontrollposten mit einem halben Dutzend Polizisten, Helfer der Terroristen, wie es hieß. Der Befehl, sie zu exekutieren, kam von ganz oben, von Ministerpräsident Ariel Scharon. Das machte die Sache noch größer, das machte Yaron G. in dieser Nacht noch wichtiger.

Der Offizier zeigte dem 20 Mann starken Trupp auf der Karte, wo ungefähr das Ziel war. Genau wusste er es nicht. Dann liefen sie los, zu Fuß, etwa zwei Kilometer. Sie pirschten sich an das Ziel, ein Haus in einem Olivenhain. Yaron G., war mit einer M 16, einem halbautomatischen Gewehr, bewaffnet. Um ein Uhr nachts waren sie dort, 50 Meter entfernt vom Ziel. Scharfschützen sollten die Lichter und Scheinwerfer des Postens treffen, dann sollten die Wachen getötet und der Posten gestürmt werden. Aber es gab keine Wachen. Es war niemand zu sehen. Sie warteten vier Stunden lang, versteckt hinter einem Mäuerchen. Yaron G. hatte keine Angst. Er war aufgeregt, eine Art innerer Alarmzustand.

Um fünf Uhr morgens traten sechs Männer auf die Veranda des Hauses, Zigaretten und Kaffeebecher in der Hand. Nur zwei trugen Uniformen und Waffen, die anderen waren in Zivil und unbewaffnet. Eine Sache von Sekunden. Die Scharfschützen zielten auf die Lichter, G. sprang hinter der Mauer hervor, lief auf die Polizeistation zu und feuerte mit seiner M 16.

Die Palästinenser schossen nicht zurück. Einer von ihnen floh in die Station, ein israelischer Soldat tötete ihn mit einer Handgranate. Der Soldat, der neben Yaron G. stand, zielte auf einen der Uniformierten. Als der zu Boden sank, rief er: Hey, ich habe ihn. „Er hat sich gefreut wie ein Kind, das etwas auf der Kirmes gewonnen hat“, sagt G. Vier Palästinenser waren geflohen. Einige nahmen die Verfolgung auf. Yaron G. nicht. Auf der Veranda lag der tote Uniformierte. Yaron G. feuerte wie die anderen auf den Leichnam, immer wieder.

Warum haben Sie das getan?

Nicht aus Sadismus, sagt er. Es war, um Teil an dem Erfolg zu haben. Ich war auch dabei.

Die IDF bestreitet, dass israelische Soldaten auf Leichen feuern. Doch es gibt Dutzende von Zeugenaussagen, die die Organisation „Breaking the silence“ gesammelt hat, die zeigen: Dieses „Sicherstellen der Tötung“ ist gängige Praxis.

Wenn Yaron G. und seine Kameraden in den Tagen danach über diese Nacht redeten, sprachen sie von dem „Massaker“. Nicht, weil sie die Aktion falsch fanden. „Massaker“ war keine moralische Bewertung, es war eine Beschreibung. IDF-Soldaten hatten in dieser Nacht 15 palästinensische Polizisten getötet, aus dem Hinterhalt, die meisten waren unbewaffnet. Ein Offizier ermahnte Yaron G., das Wort Massaker nicht mehr zu benutzen.

Zeugnisse der Besatzung – eine Ausstellung, ein Buch, zwei Diskussionen

■ Das Buch: „Breaking the Silence. Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten“ ist in diesen Tagen im Econ-Verlag erschienen. Über die israelische Ausgabe schrieb die Tel Aviver Zeitung Ha’aretz, es zeige, dass das Militär „nicht die Bürger des souveränen Staats Israel verteidigen, sondern die zivile, politische und wirtschaftliche Kontrolle über die Palästinenser vertiefe“.

■ Die Ausstellung: Das Berliner Willy-Brandt-Haus, Stresemannstraße 28, zeigt bis 29. September eine Ausstellung mit Berichten von „Breaking the Silence“. Dienstags bis sonntags, 12 bis 20 Uhr, Eintritt frei, Ausweis erforderlich.

■ Die Diskussionen: Am 19. September, 19.30 Uhr, diskutieren Dana Golan (Breaking the Silence) und Tsafrir Cohen (medico international) im taz-Café, Rudi-Dutschke-Str. 23, Berlin. Am 24. September, 20 Uhr, diskutiert Dana Golan mit Katja Maurer (medico international) in der Romanfabrik, Hanauer Landstraße 186, Frankfurt/Main.

Die Zweifel an der Aktion wuchsen sehr langsam in Yaron G.s Kopf. Wieso verfügte der israelische Geheimdienst schon direkt nach dem Anschlag auf die sechs IDF-Soldaten über sichere Informationen, welche palästinensischen Checkpoints der Attentäter passiert hatte? Konnte das sein? „Die Offiziere sagten uns, dass die Polizeistation, die wir angriffen, den Terroristen passieren ließ und mit Waffen versorgte – aber sie wussten noch nicht mal, wo diese Station genau lag.“ Im Rückblick ist Yaron G. nicht sicher, ob die Gejagten alle Polizisten waren – oder Zivilisten, die die Nacht in der Station verbracht hatten.

Am 19. Februar 2002 sind Yaron G. diese Widersprüche nicht aufgefallen. „Als Soldat denkt man nicht viel. Man bekommt Befehle, die führt man aus – fertig.“ Und selbst wenn er damals begriffen hätte, wie fadenscheinig die Begründungen für die Tötung waren, es hätte nichts geändert. „Ich war heiß auf diesen Einsatz. Endlich Action. Ich war seit drei Jahren in einer Eliteeinheit, aber hatte noch niemanden in einem Kampfeinsatz getötet. Die Palästinenser waren die Bösen. Daran zweifelten wir nicht, weil wir keinen inneren Konflikt gebrauchen konnten.“ Klar wurde sich Yaron G. über das Geschehen erst, nachdem er die Armee Ende 2002 verließ. Er reiste durch die USA und Indien. Viele israelische Soldaten machen nach ihrer Militärzeit diesen Trip, mit viel Sex, Drogen, Party. Um zu vergessen, was sie erlebt haben. Wenn Yaron G. in Indien Israelis traf, erzählte er ihnen oft, was in der Nacht des 19. Februar 2002 passiert war. Auch Wildfremden. Er wollte wissen, was sie denken, er wollte hören, dass es nicht seine Schuld war. Es war eine Suche nach Absolution. Die meisten seiner Freunde und seine Eltern sagen: Fehler passieren. Unschuldige sterben. So ist Krieg.

„Ich habe keine Albträume wegen dieser Nacht gehabt. Nichts wäre anders gelaufen, wenn ich den Befehl verweigert hätte“, sagt er. Seine Geschichte, sagt er, ist keine von den Horrorstorys aus dem Westjordanland. Er war nicht wie der israelische Soldat, der nur so aus Spaß irgendeinen Palästinenser verhaftete, folterte und aus dem fahrenden Auto warf. „Ich habe zum Glück niemanden getötet“, sagt er.

War es ein Kriegsverbrechen, Unbewaffnete zu exekutieren, nur wegen des vagen Verdachts, dass sie vielleicht einen Attentäter unterstützen?

Doch so muss man es nennen. Die Regierung wollte beweisen, dass sie etwas gegen den Terror tat. Es ging um ein Exempel. Und um Rache.

Es arbeitet in ihm. Er muss das Bild von sich so modellieren, dass es seinen moralischen Ansprüchen an sich selbst genügt. Deshalb hat er 2005 mit einem Kameraden seine Geschichte der israelischen Zeitung Maariv erzählt, anonym. „Die Israelis müssen wissen, was in den besetzten Gebieten passiert. Damit niemand sagen kann: Das habe ich nicht gewusst“, sagt er. Das treibt ihn an. Das ist seine Verantwortung. Deshalb half er, „Breaking the silence“-Soldaten zu finden, die bezeugen, was sie in den besetzten Gebieten gesehen und getan haben.

Wir sind keine Killer, sagt G. Der Fehler sei die Besatzung, aber nicht der einzelne Soldat

Es ist spät geworden. Yaron G. bringt mich zum Bahnhof. Er hat einen wippenden Gang und nichts Lautes an sich, ein zurückgenommener Typ. Wir schlendern durch das relaxte, bunte Abendtreiben. Es gibt eine Kluft zwischen dem, was am 19. Februar 2002 in Ein Arkq geschah, und der Sommerabendatmosphäre in den verkehrsberuhigten Zonen Altonas, die mit Worten schwer zu überbrücken ist.

G. lebt seit drei Jahren in Deutschland. Er hat deutsche Freunde. Keiner von ihnen weiß, was er damals getan hat. Er verschweigt es, weil er fürchtet, dass es in dem lauschigen Holzspielzeug-Deutschland, fernab vom Krieg, niemand versteht. Dass man in ihm ein Monster sähe. Wir sind keine Killer, sagt er. Es ist doch viel komplizierter. Und: Der Fehler ist die Besatzung, nicht der einzelne Soldat.

Er hat einen deutschen Pass. Sein Großvater ist 1936 als Halbwüchsiger von Berlin nach Palästina geflohen. Yaron G. mag Deutschland, vor allem das Freie. „Wenn ich in Tel Aviv mit 31 Jahren noch studiere, schauen mich alle schräg von der Seite an.“ In Israel muss man tun, was alle tun. In Deutschland nicht. Deshalb will er hierbleiben.

Und er will anonym bleiben. Obwohl er weiß, dass sich das mit seinem Wunsch, Verantwortung zu übernehmen, schlecht verträgt. Aber er fürchtet das Unverständnis deutscher Freunde, einen Shitstorm auf Facebook, strafrechtliche Verfolgung.

Es ist etwas zerrissen in ihm am 19. Februar 2002. „Ich bin Israeli, mein Kopf ist in Israel, nur mein Körper ist in Deutschland“. Er klingt wie ein Patriot. Meine Kinder, sagt Yaron G., sollen nie in dieser Armee dienen müssen.