Wer singt, friert nicht

Musik als Leidenschaft und Albtraum: „Löwenchor“ von György Dragomán

Kinder müssen Kämpfer werden: Junge in Bukarest auf dem Weg zum traditionellen „Bärentanz“ Foto: Petrut Calinescu/Panos Pictures

Von Sabine Peters

Der eiserne Bogen“: Ein zwölfjähriger Junge wird von seinem Vater gezwungen, Tag und Nacht auf seiner Geige zu üben; er soll bei einem öffentlichen Wettkampf gegen den „schwarzen Geiger“ antreten. Wenn der Junge siegt, bekommt er das Instrument seines Konkurrenten. Wenn er verliert, werden ihm, wie früher dem Vater, sämtliche Hand- und Fingerknochen mit einem eisernen Bogen zerschlagen. Der Vater lässt den Jungen nicht in Ruhe üben; er brüllt unvermittelt oder blendet den Sohn mit einer Sturmlampe. Der Junge versteht: das Musikstück muss unter allen Umständen makellos erklingen. „Sonst kann ich mich sogleich von meinen geliebten Fingerchen verabschieden.“ Schließlich lässt der Vater den Sohn in einen tiefen Brunnen herab, da spielt er weiter. Er sieht kaum etwas, doch der Vater sagt ihm, nur wenn er von dort unten auch am hellen Tag die Sterne am Himmel erkennen könne, gebe es nichts zu befürchten.

György Dragomán wurde 1973 in Rumänien geboren und zog 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. In seinen beiden ersten, international hochgelobten Romanen, „Der weiße König“ und „Der Scheiterhaufen“, beschrieb er die Diktatur unter Ceaușescu aus der Perspektive von Kindern. In beklemmenden und düster leuchtenden Bildern zeigte er, wie sehr ein außerordentlich grausames politisches System von einer ganzen Gesellschaft verinnerlicht wurde, sodass noch die größte Groteske als Normalität erschien.

Das neue Buch, „Löwenchor“, versammelt 20 Novellen, also Erzählungen über unerhörte Begebenheiten. Das gemeinsame Thema ist die Musik, ob klassisch oder zeitgenössisch, ob selbst gespielt oder als Hör­er­lebnis. Dabei ist die Geschichte vom eisernen Bogen auch atmosphärisch verwandt mit den beiden ersten Romanen: Wieder ist hier das Leben ein Krieg aller gegen alle; daher müssen auch die Kinder Kämpfer werden. Es geht zwar um die private Beziehung von Vater und Sohn, aber das System der väterlichen Dressur ist total; es gibt kein Außerhalb. Einmal mehr beschreibt Dragomán hier den ungeheuren Druck, unter dem ein Einzelner wie festgebannt steht.

Dragomán hatte seine beiden ersten Bücher, die reale sozialistische Zustände widerspiegelten, mit magischen Elementen versehen. Der Einbruch des Irrealen wirkte dabei nicht befreiend, sondern verstärkte die Atmosphäre der Ausweglosigkeit. Die Kritik verglich den Autor mit Kafka, Beckett, Ionesco, Ágota Kristóf und Herta Müller. Solches Lob kann dazu verführen, das Bewährte fortzusetzen. Im ungünstigen Fall entwickelt sich daraus dann eine Masche.

Deshalb ist es gut, dass György Dragomán jetzt auch nach neuen Wegen des Erzählens sucht. Der geografische Horizont seiner Figuren weitet sich; sie reisen durch ganz Europa. Ihre Erfahrungen mit Musik sind ambivalent. Sie kann eine Form der Überwältigung sein, kann zur Tortur werden. Aber in der Musik liegt auch sehr oft etwas Utopisches; viele Figuren verbinden sie mit Freiheit und Glück oder zumindest mit Versöhnung. Eine Sängerin, die nie zum Star wurde, weiß aber doch: „Wenn ich singe, friere ich nie, und auch die, die mir zuhören, frieren nicht.“

Einen solch poetisch anmutenden Satz, der Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen verbindet, hätte man auch in den ersten Romanen finden können. Aber jetzt geht es Dragomán eben auch darum, andere Schreibweisen zu erproben. In der Geschichte „Heavy Metal“ imitiert er Jugendsprache; da monologisiert ein frustrierter Metal-Fan. Das Konzert seiner Lieblingsband ist kurzfristig abgesagt worden. Schließlich trampt er mit einem biederen Kühlwagenfahrer ins polnische Katowice, um seine Band doch noch zu erleben. Dort gerät er in eine katholische Prozession statt ins erhoffte Konzert. In letzter Minute rettet ihn eine röhrende Harley und bringt ihn zum Stadion – das behauptet er jedenfalls. Vielleicht ist das nur eine Fantasie, sich selbst zum Trost. Die Jugendsprache des Textes wirkt angestrengt; und doch hat die Situation eine entwaffnende Komik.

György Dragomán:„Löwenchor“. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó und Terézia Mora. Suhrkamp, Berlin 2019. 270 Seiten, 24 Euro

„Datensicherung“ erzählt auf leichte, berückende Weise von einem alten Mann, der in seiner Werkstatt defekte Computer durch Handauflegen heilt. Leider stellt er seinem Kunden eine vertrackte Lohnforderung: der soll versprechen, nie wieder Techno zu hören.

Zwanzig Erzählungen und Skizzen, deren Niveau wechselt: Ein Text über Kinderstreiche ist zu schlicht gestrickt; und bei einem anderen denkt man, da wird nur eine Fleißaufgabe abgearbeitet.

Aber insgesamt ist die Lektüre faszinierend. Denn man versteht: die Erfahrung der Repression in Osteuropa ist für viele der Figuren eben nicht einfach Geschichte, vergangen und vorbei. Diese Erfahrung hat sich in ihnen vielmehr „aufgeschichtet“. Sie bestimmt ihren Blick auf die Welt, sie ist Teil der Personen. Im Übrigen findet man in dem neuen Buch neben den verstörenden, vielfältigen Bildern von Gewalt auch eine überraschende Verspieltheit. In den Fantasien der Figuren, die sie neben der Realität und gegen sie entwickeln, liegt ein widerständiges Potenzial.