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Die Kerker des Kapitalismus

Der deutsche Beitrag zur XXII. Triennale von Mailand stammt von Armin Linke. Der Fotograf bringt in seinen Bildern den triumphierenden Kapitalismus in seinen Nöten und Lügen auf den Begriff

Interview Alexander Stumm

Einer der Höhepunkte der am 1. März eröffneten XXII. Triennale di Milano mit dem Titel „Broken Nature: Design Takes on Human Survival“ ist der offizielle deutsche Beitrag von Armin Linke in Zusammenarbeit mit Giulia Bruno und Giuseppe Ielasi. Zuerst beeindruckt der Ausstellungsort. In dem 1934 unter der Herrschaft Benito Mussolinis errichteten Triennalegebäude reaktivierte das Team um den Fotografen und Filmemacher Linke eine brutalistische Treppenanlage, die für die 1964 von Umberto Eco kuratierte Triennale errichtet worden war und seither ein Schattendasein als Depot fristete. So lässt schon der architektonische Rahmen der über mehrere Stockwerke installierten Multimediaarbeit „Carceri d’Invenzione“ an Giovanni Battista Piranesis titelgebende Kupferstiche aus dem 18. Jahrhundert denken. Linke deutet die „Erfundenen Kerker“ in seiner Arbeit aber zudem als manifesten Zustand des Kapitalismus.

taz: Herr Linke, Sie fassen in Ihren Arbeiten die netzwerkartigen Strukturen des globalen Kapitalismus mit seinen komplexen Lieferketten, seiner wissenschaftlichen Akkumulation von Daten und seiner Extraktion von Rohstoffen in eindrückliche Bilder. Alles scheint nach Protokoll zu verlaufen, gleichzeitig steuern wir in eine ökologische Katastrophe. Gibt es noch Verantwortliche oder ist die Verantwortung vollends ins System ausgelagert?

Armin Linke: Alle porträtierten Akteure sind und bleiben verantwortlich. Das Problem ist, dass sie nur für einen einzelnen, kleinen Teil verantwortlich sind. Die Arbeit untersucht, was der Nobelpreisträger Paul Cruzen als das „Anthropozän“ definiert, die geologische Ära, in der der Mensch die geografischen und klimatischen Veränderungen verursacht, die unseren Planeten prägen, zum Guten und zum Schlechten.

Welche Rolle spielen Architektur und Infrastruktur innerhalb des Systems? Ermöglichen sie die Ausbeutung oder sind sie als eigene Akteure zu verstehen, zementieren sie Machtverhältnisse und diktieren sogar die Narrative?

Ich nutze Architektur immer wieder als zentrales Motiv, wie bei United Nations, COP19, Climate Change Conference, dem Eingangsbild der Ausstellung. Es zeigt das Fußballstation Narodowy in Warschau, in dem 2013 die Klimakonferenz stattfand. Die Tribünen, dort, wo eigentlich das Publikum sitzen sollte, bleiben vielsagend leer. Die Entscheidungen wiederum werden in einer neuen, temporären Konstruktion getroffen, die auf dem Spielfeld errichtet wurde: einem aufblasbaren Treibhaus, das natürlich sehr energieintensiv ist. Hier zeigt Architektur anschaulich die Widersprüchlichkeit globaler Klimapolitik. Und das Bild ist sprechend dafür, dass die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum zunehmend verschwimmen. Architektur von Institutionen hat zugleich die Tendenz, nur Hintergrund für performative Gesten zu sein. Sie wird zum Theater der Entscheidung oder repräsentiert die Idee der möglichen Entscheidung. Mir geht es um diese hintergründigen Strukturen.

Piranesis erfundene Kerker sind groteske Architekturen. Die Kerker, die Sie uns aufzeigen, überspannen den gesamten Planeten. – Es gibt eigentlich kein Außerhalb des Kerkers mehr.

Genau. In gewisser Weise sind wir in den von uns selbst geschaffenen Strukturen gefangen und scheinen keine adäquaten Lösungen zu finden, um uns daraus zu befreien. Das Außen ist vom Innen vollständig okkupiert. Das beziehe ich nicht nur auf konkrete Architektur, sondern auch auf infrastrukturelle Projekte, die sehr raumgreifend sein können und gewissermaßen die Basis für die kapitalistische Akkumulation bilden.

Der Beitrag zur Triennale baut konzeptuell auf der Ausstellung „Anthropozän-Observatorium“ im Haus der Kulturen der Welt (HKW) von 2013 auf. Der Begriff Observatorium intendiert, ein stiller Beobachter der Prozesse zu sein. Sind Sie nicht doch mehr als das, vielmehr ein eigener Protagonist mit einem aktiven Archiv?

Das Anthropozän-Projekt, eine Zusammenarbeit mit Territorial Agency – John Palmesino and Ann-Sofi Rönnskog – und dem HKW-Kurator Anselm Franke, begann tatsächlich mit der Idee von Neutralität. Aber sie ließ sich nicht lange aufrechterhalten. Schon die Wahl des Standpunkts der Kamera im Raum ist ja eine Entscheidung mit eigener Aussage. Dann gibt es den Ausstellungsraum, der stets an Institutionen gebunden ist. Zu viele Fragen unterwandern stets zwangsläufig die Neutralität.

Und das bedeutet?

Es geht eher darum, verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. Beispielsweise zeigen wir Dronenaufnahmen von ökologischen Aktivisten aus Indonesien. Landgrabbing führt dort zur schier endlosen Plantagen für die Palmölproduktion, die gleich auf mehreren Ebenen verheerend sind: Die Rodung der uralten Regenwälder zerstört den Lebensraum unzähliger Tiere und befeuert den Klimawandel, zudem wird die Landbevölkerung vertrieben oder muss, seiner Existenzgrundlage beraubt, fortan als letztes Glied des globalen Lieferkettenkapitalismus schlecht bezahlte Arbeit für multinationale Konzerne verrichten. Die Situation ist die Folge eines kolonial operierenden Extraktions­systems – die Form der Wirtschaft, die in erster Linie auf der Gewinnung natürlicher Ressourcen beruht.

Andererseits stützen Sie sich auch auf Unterwasseraufnahmen von Marum (Zentrum für Marine Umweltwissenschaften) in Bremen, das unter anderem das Integrated Ocean Drilling Program organisiert.

Ja, der Tiefseeabbau (deep-sea mining) stellt eine gewaltige neue Grenze innerhalb des Extraktionssystems dar. Wirtschaftlicher Wettbewerb ist hier juristisch noch weitgehend unreguliert; ökologische Auswirkungen sind kaum erforscht, Umweltzerstörung bleibt international ungeahndet. Mit der Einbeziehung solcher aktivistisch oder wissenschaftlich motivierter Bilder möchte ich verschiedene Agenden, verschiedene politische und ästhetische Codes zusammenbringen, um sie lesbar zu machen: ein Labor der Weltbetrachtung. Meine Hoffnung ist, dass sich durch diese diversen Informationen Möglichkeiten ergeben, die Welt anders zu planen.

Sehen Sie Ihre Arbeit zuerst als künstlerische oder wissenschaftliche, oder ist diese Unterscheidung für Sie nicht relevant?

Für mich sind es künstlerische Entscheidungen, weil sie mit gewissen Freiheiten verbunden sind. Um Einblicke in die teils abgelegenen Orte zu bekommen, ist es dadurch zudem möglich, einen Dialog der Vertraulichkeit mit den Institutionen aufzubauen. Gleichzeitig geht es mir darum, zu untersuchen, wie Politik oder Wissenschaft auf die Bildproduktion zurückgreifen, um Informationen darzustellen, und welche Repräsentationsmodelle sie wählen. Beispielsweise geht es in einem Teil dieser Ausstellung, die wir zusammen mit Prof. Dr. Birgit Schneider erarbeitet haben, um die Genealogie von Klimakarten, also die Geschichte der Visualisierung des Klimawandels.

Ich produziere das Material aber eigentlich nicht mit einem journalistischen oder dokumentarischen Hintergedanken, sondern doch mehr wie ein Wissenschaftler, der langfristig Quellenmaterial sammelt, um es schließlich neu zu komponieren. Für Carceri d’Invenzione konnte ich auf 10 Jahre Arbeit und 250 Terabyte Archivmaterial zurückgreifen.

Bis 1. September 2019, Mailand

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