: Kondome, Spirale, Radikale
Lebensschützer*innen demonstrieren in Münster wie jedes Jahr gegen Abtreibung. Die Gegendemo ist pünktlich zur Stelle
Aus Münster Anett Selle
Kondome trudeln durch die Luft. „My body, my choice: Raise your voice!“, rufen die, die sie geworfen haben – Mein Körper, meine Wahl: Erhebt eure Stimme. Eine Person in dem Sprechchor ist als Einhorn verkleidet, ihr Kondom fliegt über die Köpfe der anwesenden Polizist*innen hinweg auf die Straße. Dort, abgeschirmt durch die Beamt*innen, schreitet eine Prozession vorbei: zwei Menschen pro Reihe, im Arm je ein großes weißes Kreuz. Sie schreiten ein bisschen schneller, da kommen wieder Kondome geflogen. „Fundamentalismus raus aus den Köpfen!“, tönt der Sprechchor vom Straßenrand.
In Münster hat an diesem Samstag der sogenannte „1000-Kreuze-Marsch“ stattgefunden. Dieses Jahr mit etwa 70 Kreuzen. Jährlich kommen hier ein paar christlich-fundamentalistische Abtreibungsgegner*innen zusammen, und ebenfalls jährlich findet zeitgleich eine Demonstration für sexuelle Selbstbestimmung statt. Viele kleine Aktionen begleiten den Weg des Marsches durch die Stadt, und manche Passant*innen, die in Fußgängerzonen beim Shoppen sind, stimmen in die Sprechchöre ein. „Für die Freiheit, für das Leben: Fundis von der Straße fegen!“ In Münster kennt man den Marsch inzwischen.
„Es ist ja jedes Jahr hier, und deshalb ist klar, dass wir uns jedes Jahr wieder diesen Menschen in den Weg stellen müssen“, sagt Anne, eine Demonstrantin. Viele der Menschen in der Demo für sexuelle Selbstbestimmung haben Kleiderbügel aus Draht dabei. An einigen steht, „Never again“ – Niemals wieder. Solche Drahtbügel hat man in Zeiten, in denen Abtreibungen straffrei nicht möglich waren, als Abtreibungswerkzeug benutzt. Häufige Folgen waren innere Blutungen, Infektionen, Bauchfellentzündung und Blutvergiftung.
Dass manche Menschen die Gesellschaft zu den Kleiderbügeln zurückwünschen, verstehen die Demonstrant*innen nicht. „Sie sind dumm und haben keine Argumente“, sagt Anne. „Mit denen kann man nicht reden. Es gibt keine Ebene, um sich auszutauschen. Man kann’s versuchen, aber im Zweifel fangen die an, für einen zu beten.“
Die christlichen Fundamentalist*innen treffen sich zu ihrem Marsch ganz in der Nähe. Die Polizei ist zahlreich vertreten. Den Zugang zum Platz vor der Aegidiikirche, von wo aus der Marsch beginnen soll, regeln Beamt*innen von allen Seiten. Die Kirchenmauer hat jemand für die Fundamentalist*innen vorbereitet: In Hellblau und Lila steht da: „Mein Körper, meine Entscheidung“.
Dass die Menschen mit den Kreuzen gegen Schwangerschaftsabbrüche marschieren, basiert auf Unwissen, stellt sich heraus. Denn es gehe ihm ja gar nicht um Zellen, sagt Klaus Hengstebeck, ein Organisator des Marsches. Nein, ab dem Zeitpunkt der Befruchtung sei da ein Minimensch im Bauch der Frau. Der würde sich nicht mehr verändern, nur noch wachsen. Schwangerschaftsgewebe? So was gebe es nicht. „Sonst würden wir nicht rausgehen“, sagt Hengstebeck. Wäre da anfangs Zellgewebe – was Fakt ist –, dann hätte er nichts gegen Schwangerschaftsabbrüche. Aber Hengstebeck geht auf die Straße für die Minimenschen.
Bestätigt fühle er sich durch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). „Zum Schrecken von Grünen und Linken will die Bundesregierung jetzt mit fünf Millionen ein Projekt fördern“, sagt Hengstebeck. „Zum Post-Abortion-Syndrom.“ Spahn gibt Millionen für eine Studie aus, deren These schon mehrfach widerlegt wurde: Forschungsstand ist, dass vor allem Kriminalisierung, Vorurteile und erschwerter Zugang von Abbrüchen Frauen mit ungewollten Schwangerschaften zu belasten scheinen. Aber Abtreibungsgegner*innen erzählen weiter die Geschichte von Reue und Schuldgefühlen und schauen auf zu einem Bundesminister, von dem sie sich verstanden fühlen. Auch, dass Frauenärzt*innen an einem Abbruch viel weniger verdienen als an einer Frau, die ein Kind austrägt, will Hengestebeck nicht wissen. „Das ist ein Riesengeschäft“, wiederholt er immer wieder.
„Ob Kinder oder keine: Entscheiden wir alleine!“ „Kondome, Spirale, Linksradikale!“ Ein Strom von Gegendemonstrant*innen begleitet den Marsch durch die Stadt. Als die 70 Menschen mit den Kreuzen am Versammlungsort der Demo für sexuelle Selbstbestimmung vorbeiziehen, wird es laut. Hunderte blasen in Trillerpfeifen und brüllen, wieder stimmen Passant*innen vereinzelt mit ein, wieder fliegen Kondome. Die Kreuzträger*innen ziehen vorbei. Später werden sie niederknien und Blumen verstreuen – im Gedenken an die Minimenschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen