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„Denkt immer daran, erst mal ruhig bleiben“

Deeskalierendes Verhalten kann in Gewaltsituationen helfen und sich selbst schützen. Krav Maga ist ausdrücklich kein Kampfsport, sondern eine Selbstverteidigungstechnik. Ein Besuch bei „Krav Maga 360 Grad“ in Hamburg-Altona

Von Ann-Kathrin Just

Sie holt aus und tritt zu. Bäm! Mit einem Tritt hat sie einen Mann abgewehrt, zwei Köpfe größer als sie. Turnschuhe quietschen, laute Musik dröhnt aus den Boxen, zehn Jugendliche rennen durcheinander. Mit einer Schaumstoffnudel prügeln sie aufeinander ein. Ein Pfiff ertönt. „20 Liegestütze“, ruft Varol Agan, „und dann tut euch zu zweit zusammen!“ Agan ist Trainer für Krav Maga in Hamburg-Altona, und eben findet bei „Krav Maga 360 Grad“ das Aufwärmtraining für Kinder statt.

Die Musik wird lauter, während die Kinder Liegestütze machen. Lautstärke und körperliche Leistung: Diese einfachen Mittel sollen sie unter Stress setzen; spielerisch sollen sie dann lernen, damit umzugehen, etwa eine Konfliktsituation zu deeskalieren – oder sich, falls nötig, zu verteidigen. Was genau aber ist Krav Maga und wozu nützt es?

Laut Agan ist es kein brutaler Kampfsport, bei dem jahrelang trainiert werden müsse, um Fortschritte zu machen. „Krav Maga“, das ist Hebräisch und lässt sich mit „Kontaktkampf“ übersetzen. Entwickelt hat den der slowakische Jude Imrich Lichtenfeld – als einfaches und effektives Mittel gegen antisemitische An- und Übergriffe auf den Straßen von Bratislava. Lichtenfeld verschlug es in den 1940er-Jahren nach Palästina, im 1948 gegründeten Staat Israel dann wurde er Nahkampfausbilder der Armee. Noch heute ist die Disziplin das offizielle Kampfsystem der Streitkräfte, der „Israeli Defense Force“ (IDF), ebenso auch aller israelischen Sicherheitskräfte.

Aber mittlerweile ist es auch eine zivile Form der Selbstverteidigung – mit dem Anspruch eine einfache, aber effektive Methode gegen Gewalt zu sein. Dass daran Bedarf besteht, steht für Varol Agan außer Frage: „Meiner Wahrnehmung nach sind die Menschen heute aggressiver, gereizter und fahren schneller aus der Haut.“

Der 1979 geborene Agan ist selbst als Jugendlicher in eine Messerstecherei geraten. Danach sei ihm klar gewesen: Er müsse an seinem Selbstschutz arbeiten – auch gegen bewaffnete Gegner. Erst mal kam er so zum Kickboxen, wechselte irgendwann zum Boxen. Durch Seminare und Fortbildungen entdeckte er schließlich Krav Maga. „Es hilft dir, dich auf deinen Körper einzulassen, deine Stärken kennen zu lernen und eine geschärfte Wahrnehmung zu entwickeln“, sagt er.

Agan lernte die Technik und wurde Trainer bei der German Krav Maga Federation, einem der größeren Verbände in Deutschland, der mit Schulen und Ausbildern in vielen Regionen vertreten ist. Über diesen, aber auch andere Verbände erhalten alle Trainer eine strenge Ausbildung und werden immer wieder aufs Neue zertifiziert.

„Es ist weder Kampfsport noch Kampfkunst“, sagt Agan. „Es ist ein Selbstverteidigungstraining, basierend auf einfachen Techniken, in Verbindung mit Stresstraining.“ Realitätsnah erprobt, fuße das Training auf den natürlichen Reflexen und sei daher auch unter ex­tremen psychischen Druck anwendbar. Krav Maga zeige Präventionsmaßnahmen und Techniken zur Verteidigung der eigenen Person oder anderer Personen auf und nutze dabei instinktive Bewegungsabläufe. „Krav Maga können alle machen, egal ob Mann, Frau oder Kind“, sagt Agan. „Es ist eine moderne Selbstverteidigung für jeden.“

Während die Kinder miteinander boxen, führt Agan diesen Anspruch aus: Für Frauen etwa sei Krav Maga geeignet, die beispielsweise spät abends allein unterwegs sind und sich unsicher fühlen. Krav Maga gebe ihnen das Gefühl, sich im Ernstfall gegen einen körperlich überlegenen Täter zur Wehr zu setzen. Und Kinder „können spielerisch den Umgang mit bedrohlichen Situationen erlernen“. So wie Charline: Die 14-Jährige ist kleiner und dünner als der Trainer. Aber mit einem kräftigen Tritt wehrt sie den erwachsenen Mann ab – Charline macht seit über einem Jahr Krav Maga.

Die Kinder trainieren weiter. Sie tragen normale Sportbekleidung, nur für bestimmte Übungen gibt es Schutzhelme oder Handschuhe. Krav Maga helfe, gefährliche Situationen als Problem zu betrachten und Lösungen dafür zu finden, sagt Agan. Es gehe um den eigenen Schutz, aber auch um Gewaltprävention. „Der Schulhof ist manchmal ganz schön rau, aber mit Krav Maga lernst du zu deeskalieren und dich bestenfalls zu verteidigen und zu schützen“, sagt Agan. „Mir sind da Schicksale erzählt worden, die sind so unfassbar und brutal, dass ich mir denke: Wie kann das passieren?“ Mehr will er dazu eigentlich nicht erzählen, aber so viel tut er dann doch: In seiner Gruppe seien Kinder, die das Training bewahrt habe vor dem kompletten Zusammenbruch – nachdem sie Opfer von Straftaten geworden seien. „Schule“, sagt Agan, „ist ganz schön krass heutzutage.“

Die Pfeife ertönt wieder – Agan zeigt eine neue Übung: „Denkt immer daran, erst mal ruhig bleiben“, sagt er. „Wirst du blöd angemacht, hebe die Hände und versuche erst einmal sachlich zu bleiben.“ Auch er hebt die Hände hoch, versucht, mit dem Gegenüber zu sprechen: Klar zu machen, dass man keinen Streit will, das helfe häufig.

In Zweiergruppen tun sich die Kinder nun wieder zusammen, je eines versucht dem anderen auf den Kopf zu schlagen. Aber das andere Kind weiß sich zu helfen, wehrt die Schläge mit den Ellenbogen ab, der Kopf bleibt unversehrt. „Schützt euren Kopf“, ruft der Trainer. „Bleibt gerade! Geht gerade heraus!“ Es ist plötzlich wieder unfassbar laut, die Szene wirkt aggressiv. Krav Maga, das ist wirklich „Kontaktkampf“, das führen die Kinder nun vor. Dumpfe Schläge sind zu hören, aber tatsächlich wird kein Kopf getroffen.

„Du verbesserst deine Physis, spürst deine Grenzen und wächst über dich hinaus“, erklärt Agan. Die nächste Technik wirkt: Erneut üben die Kinder im Doppel, eines drängt das andere Kind immer weiter an die Wand. Das bedrängte Kind drückt sich mit einem Fuß von der Wand ab – und ist auf einmal nicht mehr in der Defensive, sondern in der Offensive und kann weglaufen. „Wenn ich mich so richtig doll von der Wand wegtrete“, fragt ein Junge, „fliegt mein Angreifer dann nicht schon zu Boden?“ Agan stimmt zu: Ja, das könne schon passieren. Heute solle aber nur geübt werden. „Übertreibt es nicht“, sagt Agan.

Wieder ertönt sein Pfiff. Als letzte Übung müssen die Kinder sich am Boden liegend verteidigen: Mit einem Stock versucht immer eines auf ein anderes einzuschlagen. Das Kind am Boden, auf dem Rücken liegend, dreht sich im Kreis. Mit schnellen Bewegung und sicheren Beinen kann es mit den Füßen die Hiebe abwehren. Der Stock knallt immer wieder – trifft die Sohlen, aber nicht den Körper des liegenden Kindes. Noch ein Pfiff: Jetzt müssen die am Boden liegenden Kinder so schnell wie möglich aufspringen und wegrennen. „Es geht um eure Sicherheit“, schreit Agan – „Lauft, so schnell ihr könnt!“

Die Musik wird leiser, das Training ist zu Ende. Ein bisschen erschöpft sehen die Kinder aus. „Ihr macht das schon alle ziemlich gut“, sagt der Trainer zum Abschied. „Aber an eurer Schnelligkeit könnt ihr noch arbeiten.“

„Krav Maga 360 Grad“, Studio EMS, Bergiusstraße 1, Hamburg; https://krav-maga.hamburg

Infos gibt es auch bei den Verbänden: www.krav-maga-verband.de, www.gkmf.de/home.html

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