: Gemalte Samples
Die Kestnergesellschaft in Hannover zeigt den Künstler Walter Dahn mit einer umfassenden Retrospektive. Die rund 80 Arbeiten eröffnen ein ausuferndes System von Zitaten und Bezügen auf Popkultur und Kunstgeschichte
Von Bettina Maria Brosowsky
Man muss schon ziemlich sattelfest sein in pop-, aber auch hochkulturellen Bezugssystemen. Sonst wird man sich schwertun mit dem Kosmos von Walter Dahn. Der Kölner Maler hat die Räumlichkeiten der Kestnergesellschaft in Hannover mit einer Retrospektive aus etwa 80, von 1980 bis heute datierten Arbeiten bestückt. Es fängt schon mit dem Titel an: „As Life Travels on“. Was nach taoistischer Lebensweisheit klingt, ist eine Textzeile aus dem Eddie-Cochran-Hit „Three Steps to Heaven“. Der Song stürmte 1960, ironischerweise nach dem Unfalltod des erst 22-jährigen US-amerikanischen Rockabilly-Musikers, die britischen Charts.
Weiter geht’s bei Cochran: „And things do go wrong“ – was für Walter Dahn eher nicht zutrifft. Denn bei ihm ging eigentlich wenig daneben. Er ist, unter anderem, einer der bekanntesten Protagonisten der „Neuen Wilden“, dieser zutiefst (west-)deutschen Spielart figurativer Malerei, die sich ab etwa 1978 formierte. Die eruptive Malweise verstand sich als Opposition zur seinerzeit bestimmenden Avantgarde aus kühlem Minimalismus und Konzeptkunst.
Minimalismus, das sieht man sofort, ist Dahns Sache nicht. Der 1954 bei Krefeld Geborene hat unter Joseph Beuys in Düsseldorf studiert, war 1977 dessen Meisterschüler. Assoziationsreich, spirituell, vielleicht schamanisch aufgeladen und von materialreicher Kombinatorik sind entsprechend auch die zwei- und dreidimensionalen Dahns, die hier zu sehen sind.
In seiner frühen, wild gestischen Malerei ab 1980 experimentierte Dahn mit Themen, flotten Sprüchen und Techniken jenseits damaliger Konventionen, ließ auch Kollegen seiner Künstlertruppe „Mülheimer Freiheit“ am Werk teilhaben. „Ein Mann mit einer langen Nase repariert die Karawane“ heißt etwa eine gut zwei Meter große, rotbunte Malerei in bewusst schlampiger Manier. Ein von oben betrachteter schemenhafter Mann mit skurril langer Nase stochert in einer kleinen Kamelgruppe herum, sie ist wiederum in simultaner Seitenansicht dargestellt. Den titelgebenden Schriftzug steuerte dann Kollege Jiří Georg Dokoupil in nicht minder nonchalanter Art bei.
Das Ergebnis führt kryptisch-humoristisch die Malerei und das schöpferische Künstlergenie ad absurdum. Dahn beschickte mit Derartigem 1982 die Documenta 7 in Kassel – um bald darauf dessen überdrüssig zu werden. Die Neuen Wilden seien ein „Nadelöhr“ gewesen, so Dahn, zu neuen Kapiteln seines künstlerischen Freigeistes. Menschliche Kulturpraktiken wie Musik, die Dahn mit eigenen Projekten betrieb, gängige bildnerische Genres, Fotografie, aber auch existentielle Phänomene wie die Ernte oder den Glauben wurden untersucht und ideologiefrei in unendlichen Verbindungen bearbeitet.
Dahn widmete sich etwa dem Siebdruck, einer Technik, die eigentlich der kleinseriellen Vervielfältigung von limitierten Editionen dient. Auf verschiedenen textilen Untergründen setzte er sie jedoch als künstlerisches Unikat ein, das sich mitunter auch Kollegenwerk der Kunstgeschichte aneignet. Das Druckmotiv wird anschließend künstlerisch verfremdet oder übermalt.
So etwa in „Auf Wiedersehen“, 2014 entstanden. Dahn zitiert eine Karikatur von Honoré Daumier: Ein 1840 vom Herbstsalon abgewiesener Künstler zerstört wütend sein Werk, das undankbare Vaterland soll es nie bekommen. Und er dynamisiert die Zerstörungsgeste durch eine bläuliche Wolke am Fuße des Wüterichs, sie wiederum wurde vom Dahn-Schüler Béla Pablo Janssen hinzugefügt. Denn der Jungkünstler konnte sicherlich noch besser als Meister Dahn, zu dem Zeitpunkt bereits seit fast 20 Jahren Professor für Malerei an der Hochschule für bildende Künste Braunschweig, ermessen, wie es sich anfühlen mag, künstlerisch abgewiesen zu werden.
Weitere Arbeiten verwenden kyrillische Agitation von El Lissitzk, und Kasimir Malewitschs schwarzes Quadrat mutiert ungeniert zur schwarzen Scheibe, einer Schallplatte: „Mein Malewitsch“. Auch der Hippie-Slogan „Make Love not War“ feiert mehrfach gebrochen fröhliche Urständ. Dahn verwendet aus Emile de Antonios 1968 gedrehtem Dokumentarfilm zum Vietnamkrieg das Bild von Michael Wynn, einem 20-jährigen US-Soldaten. Er hat zur Demonstration seines entschlossenen Kampfeswillens den Spruch schlichtweg umgedreht: „Make War not Love“. Rot-Rosé überfangen wird es zum zeitlosen Menetekel Dahns, soll aber auch als Anspielung auf ein Cover der proto-veganen britischen Alternativ-Band Smiths verstanden werden, die wiederum nochmals umcodierte: „Meat is Murder“.
In einer Vitrine schlummert ein weiteres Standfoto: „L’Enfant Sauvage“, der Wolfsjunge, aus dem Film von François Truffaut. Oder ist es der Deckel des Buches von T. C. Boyle, der 2011 die Geschichte rekonstruierte? Man weiß es nicht genau – und vermutet jetzt überall Zitate. Etwa Dahns „Kleines Stillleben“, eine Art Porträt aus seiner Gruppe der „analytischen Malerei“, lässt irgendwo aus der Achselhöhle Kreatives erwachsen. Man denkt an Herbert Bayers Selbstporträt von 1932, eine Fotomontage freudig überraschter Selbst-Dekonstruktion?
„Anch’io sono pittore“, jener angebliche Ausruf Correggios angesichts eines Raffael-Werks springt einem noch entgegen – Siebdruck oder klassische Malerei? Aber auch die eher einfältige Überarbeitung einer CK-one-Duftflasche: Hier ist FU davor ergänzt. „Go home, there is nothing to see“ ermuntert dann glücklicherweise der Schriftzug in einem großen Tableau zum Aufbruch, denn das Wahrgenommene muss ja irgendwie noch verdaut werden.
Bis 28. April, Kestnergesellschaft, Hannover
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