„Sie wollen die Geschichte umschreiben“
Der Istanbuler Staatsanwalt fordert lebenslange Haft für 16 prominente Vertreter*innen der Zivilgesellschaft. Sie sollen die Gezi-Proteste organisiert haben. Ein Gespräch über die Gezi-Ermittlungen mit dem Anwalt Can Atalay, dessen Name auch in der Anklageschrift steht.
Interview Tunca Öğreten
Knapp sechs Jahre nach den Gezi-Protesten im Juni 2013 legte die Istanbuler Staatsanwaltschaft vergangene Woche eine 657-seitige Anklageschrift vor, in der sie 16 prominente Vertreter*innen der Zivilgesellschaft der Organisation und Finanzierung der Gezi-Proteste bezichtigt. Damit hat sie die sogenannten Gezi-Ermittlungen abgeschlossen, die seit mehr als fünf Jahren andauerten. Im Frühsommer 2013 hatte sich aus der Bewegung zum Schutz des Istanbuler Gezi-Parks eine landesweite Protestbewegung gegen die Regierung Erdoğan entwickelt, die von der Polizei brutal niedergeschlagen wurde.
Der Staatsanwalt legte nun die Anklageschrift dem zuständigen Gericht vor, nachdem der Kulturmäzen Osman Kavala bereits seit mehr als 15 Monaten ohne Anklageschrift in Haft saß. Die Staatsanwaltschaft fordert erschwerte lebenslange Haft für alle 16 Angeklagten. Neben Kavala finden sich in der Anklageschrift weitere 15 prominente Namen, darunter der Journalist Can Dündar, der Schauspieler Mehmet Ali Alabora, der Anwalt Can Atalay und die Architektin Mücella Yapıcı. Atalay und Yapıcı waren Mitglieder der Taksim-Solidaritätsplattform. 2 der 16 Angeklagten sind inhaftiert, 6 leben seit Längerem im Ausland. Das Gericht wird innerhalb von zwei Wochen entscheiden, ob es die Anklage zulässt.
taz.gazete: Herr Atalay, was bedeutet es, dass die Gezi-Ermittlungen abgeschlossen sind und die Anklageschrift jetzt steht?
Can Atalay: Wenn ich mir die Details der Anklageschrift anschaue, die bereits in die AKP-nahen Medien durchgestochen wurden, denke ich, das ist ein Anfang. Dass sich die Anklage auf Paragraf 312 stützen würde, also den Versuch, die Regierung unter Gewaltanwendung zu stürzen, dachten sich manche schon, auch ich. Doch dass für 16 Personen lebenslange Haft gefordert werden würde, hatte ich nicht erwartet. Das heißt: „Es handelt sich um eine Vereinigung und diese 16 Personen führen sie. Darüber hinaus hat die Vereinigung weitere Mitglieder.“
Und die Mitglieder wären dann all die Menschen, die sich an den Gezi-Protesten beteiligt haben?
Vermutlich werden noch Hunderttausende, die bei Gezi dabei waren oder die Proteste unterstützt haben, wegen Mitgliedschaft in der Vereinigung vor Gericht gestellt. Es könnte vor allem gegen linke, nicht organisierte Kreise Ermittlungen oder Operationen geben.
Aber nicht alle der 16 Personen, die jetzt in der Anklageschrift stehen, sind Vertreter*innen der Linken.
Natürlich nicht. Ich vermute, dass die Verdächtigen, die nicht aus der Linken kommen, der Akte angegliedert wurden, um Gezi als einen „durch Manipulation und mit Geld aus dem Westen angezettelten Umsturzversuch“ zu lancieren. Das heißt, sie wollen die Geschichte so umschreiben, wie es ihnen nutzt. Deshalb ist das ein Sammelprozess, der sich nicht bloß gegen die Linke, sondern gegen die gesamte gesellschaftliche Opposition richtet.
Welche Bedeutung hatten Sie alle denn für Gezi, dass gegen Sie eine solche Anklageschrift aufgesetzt wurde?
Osman Kavala war zwar bei Gezi, aber ich glaube nicht, dass er in dem Maße in die Proteste verwickelt war wie in der Anklageschrift behauptet. Die These, er habe Gezi finanziert, ist Unfug. Weder Kavala noch sonst jemand hätte jemals Gezi finanzieren können. Die Proteste waren ja überhaupt nichts, wo es um Finanzierung ging. Mücella Yapıcı und ich haben damals als Sprecher*innen der Massen fungiert. Das dürfte der Grund dafür sein, dass wir in die Ermittlungen aufgenommen wurden.
Die Gezi-Proteste vom Juni 2013 sind fast sechs Jahre her. Warum hat man mit der Anklageschrift so lange gewartet?
Mir ist völlig klar, dass es sich um eine Operation der Gülenisten handelt. Staatsanwälte und Polizisten der Gülen-Bewegung haben bereits zu ermitteln begonnen, als Erdoğan (am 24. Juni 2013, Anm. d. Red.) sagte, er habe den Befehl für die brutalen Polizeieinsätze gegeben, die mit Toten und Schwerverletzten endeten. Die Ermittlungen leitete sogar einer, der beim Putschversuch vom 15. Juli 2016 die schärfsten Befehle zum Angriff gab: der ehemalige Chef der Sicherheitsabteilung Mithat Aynacı, „Panzer-Mithat“ genannt, der in der Nacht im Panzer bis vor die Tür des Istanbuler Polizeipräsidiums rollte. Sie wollten die Anklageschrift eigentlich viel früher vorlegen. Doch als es dann (im Dezember 2013, Anm. d. Red.) zum Bruch zwischen AKP und Gülenisten kam, rutschte diese Sache auf der Prioritätenliste nach unten.
Hat es etwas zu bedeuten, dass die Anklageschrift jetzt im Vorfeld der Kommunalwahlen am 31. März erstellt und präsentiert wurde?
Aber sicher. Schauen Sie, Paris ist Tausende Kilometer von Istanbul entfernt. Doch wegen der Proteste der Gelbwesten wurde hier der Verkauf gelber Westen behindert. Mit der Anklageschrift soll versucht werden, das von der Verfassung garantierte Recht auf Protest der Bevölkerung zu verbieten, Kritik an der Regierung soll unmöglich werden.
Löst die Anklageschrift, die aus Angst vor erneuten Protesten im Format von Gezi erstellt wurde, nicht möglicherweise ihrerseits ein neues Gezi aus?
Ich denke, das erweckt Gezi nicht wieder zum Leben, denn das war etwas ganz Besonderes damals. Etwas Ähnliches kann nicht noch einmal auf die Beine gestellt werden. Damals habe ich zum Beispiel eines Tages von einem hohen Gebäude auf den Taksim-Platz geschaut. Auf einmal kamen Nationalisten, die den Wolfsgruß zeigten, und reihten sich zur Unterstützung in die Proteste ein. Heute ist die Gesellschaft so polarisiert, dass ein solches Zusammentreffen von Nationalisten, Linken und Anarchist*innen undenkbar ist.
Kann Kavala jetzt, da die Anklageschrift steht, auf freien Fuß gesetzt werden?
Ich denke, mit dem Eröffnungsbeschluss des Gerichts kommt Kavala frei. Doch auch seine eventuelle Freilassung würde die aktuelle Situation nicht entspannen. Da die Akte als Rechtfertigung der Thesen der Machthaber angefertigt wurde, verurteilen sie voraussichtlich uns alle.
Was empfinden Sie angesichts der Forderung nach lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen?
Lebenslang unter erschwerten Bedingungen ist schlimmer als die Todesstrafe. Sie sitzen über 30 Jahre in einer Einzelzelle, man darf täglich nicht mal eine Stunde an die Luft, Ihr Recht auf Kommunikation und Information ist eingeschränkt. Auch ich bin ein Mensch und wünsche mir ein solches Urteil selbstverständlich nicht. Aber ich sehe es als meine Verantwortung, vor Gericht auf diese infamen Anschuldigungen zu antworten.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe