: Fiktion und Wahn
Mit Ende des Ersten Weltkriegs ging es mit der Legendenbildung erst richtig los: Herbert Kapfers nächste Woche erscheinende Textcollage ist eine vergnügliche Erinnerung daran
Von Rudolf Walther
Der Erste Weltkrieg gilt in der Geschichtswissenschaft als die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts. In der Alltagssprache in Frankreich und England, die die Brutalität des industrialisierten Kriegsgeschehens nachvollzieht, heißt er bis heute „La Grande Guerre“, „The Great War“. In den Texten rechter, linker und liberaler Autoren verbinden sich die Erfahrungen im Krieg mit Fiktionen und Fantasien bis hin zum Wahn. Der Krieg endete 1918, aber in den Köpfen wucherte er weiter.
Herbert Kapfers „1919. Fiktion“ ist nun kein Roman, sondern eine Textcollage, die der Hörspielredakteur und Publizist zusammengestellt hat. Was sich unter dem harmlos tönenden Titel mit den zwischen 1919 und 1938 publizierten Texten von rund zwei Dutzend Autoren präsentiert, ist beachtlich. In den zum Teil fiktionalen, zum Teil dokumentarischen Texten werden Erfahrungen, die Soldaten und Offiziere im Ersten Weltkrieg machten, psychisch verarbeitet und politisch reflektiert.
Auch Zivilisten lebten nach dem Krieg oft in einer Welt voller Bitterkeit, wie eine Todesanzeige vom 8. 1. 1919 von Eltern für ihren gefallenen Sohn belegt: „Mit Begeisterung hat er 4 ½ Jahre für sein Vaterland gekämpft, dessen selbstverschuldeter Ohnmacht er jetzt zum Opfer fiel. Wohl ihm, dass die Heimkehr ihm erspart blieb.“
Solch Fiktionen und Wahnvorstellungen gehörten auch in Friedenszeiten zur Grundausstattung rechter Politik.
In der linken Zeitschrift Die Aktion von Franz Pfemfert wurde 1919 über eine Nordlandfahrt von Wilhelm II. im Jahr 1897 berichtet. Bei der hatte der Kaiser einen Leutnant Gustav von Hahnke schwer beleidigt. Der habe auf die bösartige Herabsetzung seiner adligen Herkunft mit einem Faustschlag auf des Kaisers Auge reagiert. Der Leutnant wurde abgeführt, ein Verfahren angeordnet, das nach Lage der Dinge mit einem Todesurteil für den Leutnant enden musste. Dieser entzog sich seiner Verurteilung durch Selbstmord. Der Vorfall wurde totgeschwiegen.
Doch die über 4.000 Seiten starke Biografie Wilhelms II. von John C. G. Röhl legt die Fakten offen: Der Kaiser hatte sich an Bord des Schiffes am Auge verletzt und der junge Leutnant von Hahnke starb nach einem Fahrradunfall beim Landgang. Es war Generalfeldmarschall Alfred von Waldersee (1832-1904), der die beiden unabhängigen Ereignisse in seinen Tagebucheintragungen freihändig verknüpfte. Der Generalfeldmarschall hatte sich mit dem jungen Kaiser verkracht und liebäugelte mit einem (politisch aussichtslosen) Staatsstreich und einem (abenteuerlichen) Bürgerkrieg gegen die SPD, die 1891 ein Fünftel der Stimmen gewonnen hatte.
Aber in einer Welt von Fiktion und Wahn lebte nicht nur der eitle General, sondern auch der in der öffentlichen Wahrnehmung politisch extravagante Kaiser. Die New York Times prognostizierte, Wilhelm II. werde „früher oder später ganz verrückt“. Und in der Hofkanzlei des russischen Zar Nikolaus II. hielt man ihn schlicht für „rasend verrückt“. Der britische Premier- und Außenminister Lord Salisbury betrachtete ihn schon 1888 als „mad enough for anything“.
Fiktionen und Fantasien über den Kriegsverlauf gerieten in eine Spirale der Überbietung, mit der sich der Krieg retrospektiv in eine Wahnsinnsmaschine verwandelte. So veröffentlichte der Zirkusakrobat, Dompteur, Filmpionier, Drehbuchautor und Schriftsteller Josef Pollak 1925 unter dem Pseudonym Joseph Delmont den Roman „Die Stadt unter dem Meere“. Der handelte davon, wie eine geheime, mit modernsten Waffen ausgerüstete deutsche U-Boot-Flotte die Niederlage im Krieg mit „einer kleinen Schar von Menschen treuester Pflichterfüllung“ doch noch abwenden könnte. Sein fiktives Ziel: die Errichtung eines „auf ewig unbesiegbaren neuen deutschen Reiches“ mit einem „großen, neuen Mann“ an der Spitze.
Solcher Wahn wurde noch überboten von den vermeintlich realistischen Berichten des Freikorpskämpfers und rechtsradikalen Terroristen Ernst von Salomon (1902-1972). Nach seinem Roman „Die Geächteten“ von 1930 hatte der Krieg dem Leben „einen Sinn gegeben“ und „den Einsatz geheiligt“. Es seien die „verwegenen Hirne“ der rechten Freischärler gewesen, denen man auch nach Ende des Krieges im Baltikum, die Verteidigung „deutschen Herrentums“ gegen „asiatische Willkür“ verdanke.
Verglichen mit Salomons Vorstellungen darüber, wie „die Gelüste unseres Blutes zu stillen“ waren, blieben die Fantasien von Kriegsgegnern wie Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Max Hoelz oder Oskar Maria Graf eher bescheiden. Der Rätekommunist Max Hoelz (1889-1933) etwa kleidete sie 1929, wegen seiner Beteiligung an dem Aufstand im Vogtland im Gefängnis einsitzend, in eine ironische Persiflage der Hausordnung einer Strafanstalt als Gottesurteil. Andere Autoren wie Richard Huelsenbeck neigten jedoch bereits 1920 eher zur Resignation als zur Fiktion angesichts der scheiternden Revolution: „Ludendorff musste gehen, aber jeder Leutnant macht sich eine Ehre daraus, ein Vertreter dieser Eisenfresser-Weltanschauung, ein Priester der Religion der ‚Realpolitik‘ zu sein.“
Ein Karl Busch (1899-1942), Frontkämpfer, Freikorps-Offizier, Mitglied der NSDAP-Reichsleitung und Redakteur des DAF-Organs Der Deutsche unter dem Pseudonym Karl Matthias Buschbecker träumte hingegen noch 1936 „von Trotz und Treue, Sieg und Schlacht, vom Vaterland, das uns verraten“ sowie einer schönen Polin, „deren Beine (…) jedes Pferd im Herrensitz regierten“.
Eine völlig vergessene Figur wie Gregor Gog (1891-1945) – Lebensreformer, Gelegenheitsarbeiter, Kommunist und Gründer der „Bruderschaft der Vagabunden“ (1927), von den Nazis verfolgt, aus der Schweiz ausgewiesen und in die Sowjetunion geflohen – proklamierte 1928 eine naive Vision des „Neuen Menschen“:
„Wo der Bürger aufhört, beginnt das Paradies.“ Kapfers „1919“ demonstriert die Potenz raffinierter Textcollagen zur historische Aufklärung.
Herbert Kapfer: „1919. Fiktion“. Kunstmann Verlag, München 2019. 422 S., 25 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen