: Von Grün zu Rot zum Piepen
Viele Unfälle mit Radfahrer*innen könnten durch LKW-Abbiegeassistenten vermieden werden. Allerdings kommt es dabei häufig zu Fehlalarmen. Eine Hamburger Firma arbeitet an einer Lösung
Von André Zuschlag
Noch ist die rechteckige Fläche auf dem Bildschirm grün umrandet. Doch das Fahrrad taucht ganz rechts schon mit seinem Vorderrad im Bild auf und jetzt, wo es die Fläche, die auf dem Bildschirm festgelegt wurde, eindringt, wechselt die Randfarbe in Rot. Der Fahrer setzt den Blinker zum Rechtsabbiegen und schon geht das Piepen los. „Jetzt versuchen wir es noch mal, ohne den Blinker zu setzen“, sagt der Fahrer. Dasselbe Spiel, nur dass das Lenkrad diesmal ohne vorheriges Blinken eingeschlagen wird. Und wieder piept es laut durchs Cockpit.
Es sind diese Momente, die für jede*n Radfahrer*in der Horror sind: An der Kreuzung will der LKW links neben einem abbiegen und man selbst ist im toten Winkel. Hier wird diese Situation nachgespielt – auf einem Parkplatz, im Hamburger Industriegebiet in Hammerbrook. Direkt nebenan, hinter der kleinen Mauer, ist einer der Kanäle, die zur Bille gehören. „Bist du happy?“, fragt Firmenchef Matthias Feistel seinen Entwickler, der am Lenkrad im LKW sitzt. „Sehr.“ Das Software-Update für den Abbiegeassistenten funktioniert einwandfrei, alle grinsen. Selbst wenn die LKW-Fahrer*innen den Blinker nicht setzen, schlägt der „Turn Detect“ Alarm.
Solche Abbiegeassistenten gibt es bereits seit ein paar Jahren. Manche setzen auf Radar-Sensoren, die sich aktivieren, sobald ein Radfahrer dem LKW zu nahe kommt, andere auf Kameras. Ein Grundproblem: Viele Systeme können nicht zwischen stehenden Gegenständen und fahrenden Rädern unterscheiden. Gibt so ein System aber ständig einen Fehlalarm, weil es eine Parkbank am Straßenrand für eine Radfahrer*in hält, ist den LKW-Fahrer*innen auch nicht geholfen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass manche Fahrer*innen wegen des ständigen Piepens das System ausschalten. Dabei starben im vergangenen Jahr 34 Menschen durch Abbiegeunfälle, weil sie im toten Winkel nicht gesehen wurden. Rund 60 Prozent der Unfälle, so sagen es unabhängige Studien, könnten mit Assistenzsystemen verhindert werden.
Das kleine Hamburger Unternehmen Luis Technologies hat mit seinem Abbiegeassistenten ein Modell entwickelt, das Fehlalarme weitgehend vermeiden soll. Geschäftsführer Feistel zeigt auf die Kamera, die oben an der Fläche zwischen Cockpit und Anhänger montiert ist. „Und von dort oben erfasst die Kamera, anders als Sensoren, die auf Körperhöhe montiert werden, auch Objekte, die sich hinter einem geparkten Auto bewegen.“ Der Algorithmus vergleicht die 25 Bilder, die die Kamera pro Sekunde aufnimmt, und erkennt, ob sich da was bewegt oder nur steht. Und auch, ob es sich in die gefährliche Richtung bewegt oder davon weg.
Nun sind die Abbiegeassistenten bisher nicht verpflichtend. Die Bundesregierung scheut sich bisher davor, eine entsprechende Regelung zu erlassen, weil sie der Ansicht ist, dass das nur auf Ebene der Europäischen Union eingeführt werden kann. Ansonsten könnten etwa Spediteure wegen Inlandsdiskriminierung klagen, so die Befürchtung.
Eine europaweite Verpflichtung erscheint derzeit allerdings erst für das Jahr 2022 als halbwegs realistisch – das ist noch lange hin. Weil das auch der Bundesregierung zu lange dauert, wurde im Januar ein Fördertopf bereitgestellt, der binnen kürzester Zeit ausgeschöpft wurde. Auch größere Logistikunternehmen haben sich bereits freiwillig für eine Installierung entschieden. Fuhrunternehmer und der Fahrradclub ADFC fordern die Bundesregierung auf, bei den Mitteln für die freiwillige Anschaffung noch einmal deutlich nachzulegen.
Ob die Bundesrepublik allerdings tatsächlich warten muss, bis auf EU-Ebene eine Regelung umgesetzt wird, ist fraglich. Die Bundestagsfraktion der Grünen hatte ein Rechtsgutachten veröffentlicht, das zeigt: Städte können schon heute Fahrten von Lastkraftwagen ohne Abbiegeassistenten verbieten. Die Kommunen können auf Grundlage der Straßenverkehrsordnung verfügen, dass nur sichere LKWs in die Städte fahren dürfen. Legt man fest, dass sie nur mit Abbiegeassistent als sicher gelten, hätte man zumindest eine Übergangslösung, bis die Verpflichtung zu EU-Recht geworden ist.
Dabei wäre eine Nachrüstung kein großer Aufwand. Das „Turn Detect“-System etwa ist in vier Stunden installiert. „Wir haben hier jetzt einen LKW von Scania zum Test“, sagt Feistel auf dem Parkplatz vor den Firmenräumen. Trotz der Kosten, die immerhin 1.500 bis 2.000 Euro betragen, ist das Interesse an den Assistenten momentan riesig. „Die Fahrer haben sich fast alle für Assistenten ausgesprochen“, sagt Feistel. Einen Abbiegeunfall will auch im Cockpit niemand erleben.
In den Firmenräumen oben im großen Industriegebäude stehen derweil einige Modelle des „Turn Detect“ auf einem Stelltisch zwischen den Lagerregalen. Die angeschlossenen Kameras sind auf den Gang gerichtet. Immer, wenn jemand vorbeigeht, färbt sich der grüne Rand um in Rot.
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