: Unernste Gemetzel
Im Raum 404 sind mit der Hamburgerin Jul Gordon und Émilie Plateau aus Brüssel Comickünstlerinnen zu sehen, die das Genre von seinen Rändern her erkunden. Beide übersetzen reflektierte Alltagsbeobachtungen in zeichnerische und installative Zusammenhänge. Vor allem aber erzählen sie Geschichten – und das ist nicht selbstverständlich in dieser aufs Abstrakte spezialisierten Galerie
Von Frank Schümann
Der Psychiater sieht nicht nur so aus wie die Reporterlegende Tim (der mit Struppi), sondern fragt auch ähnlich unnachgiebig: „Sind andere Schuld an Ihren Problemen?“ Sein großäugiger, quarzender Patient kann kaum anders, als im nächsten Panel einen Riesenseufzer loszulassen. In Jul Gordons 16-seitigem Heft „Neigen Sie zum Weinen?“ ist dies der Ausgangspunkt einer absurd anmutenden Geschichte, in der die Figuren zudem als marginale Teile eines Bühnenbild-Aufbaus agieren – denn die Räume spielen in den Arbeiten von Jul Gordon immer eine besondere Rolle. Rund zehn dieser Arbeiten sind derzeit im Raum 404 zu sehen – gemeinsam mit rund 20 Werken einer weiteren Comickünstlerin: der Belgierin Émilie Plateau.
„Beide Künstlerinnen vereint das Erzählen“, sagt Gregor Straube, der Raum-404-Galerist und Kurator der Ausstellung: „Sie präsentieren uns Alltagsgeschichten, die in einem sehr zerbrechlichen und feinfühligen Stil gezeichnet sind – dabei aber mit sehr eigenständigen ästhetischen Positionen.“ Beide Künstlerinnen gehen zudem über ihr angestammtes Medium hinaus und arbeiten auch mehrdimensional – in Form von Installationen und Dioramen aus Pappe; Jul Gordon hat überdies bereits zwei Wochen vor der Vernissage ein großes Textilplakat aufgehängt, das dieses Mal nicht Tim, sondern Obelix zeigt – leicht entfremdet, aber sofort zu erkennen.
„Vorbilder sind doch was Schönes, es ist wichtig, dass man sich an jemandem orientiert“, sagt die Hamburgerin, „jedenfalls für mich.“ Ansonsten hat sie da allerdings eher den Filmemacher David Lynch im Sinn. Mit Stil und Strukturen der „Tim und Struppi“- und „Asterix“-Comics haben ihre Geschichten in der Tat ganz und gar nichts gemeinsam, die „entliehenen“ Figuren verstärken nur den oftmals surrealen Charakter ihrer Geschichten.
Jul Gordon schafft seltsame, faszinierende Welten, mit einem Stil, der das Räumliche in den Mittelpunkt zu stellen scheint, die Figuren wiederum fast zerfasern lässt – „nur zeichnerisch“, wie Gregor Straube schnell ergänzt. Die Geschichten aber haben es in sich: Da schießt ein alter Mann im Rollstuhl auf Vögel, es kommt zu einem blutigen Showdown in einer Winterlandschaft – und in einem „Messerkampf-Kontaktzentrum“ schließlich zu einem wahren Gemetzel.
Elementarer für die Arbeit von Jul Gordon ist allerdings die Szene nach diesem Gemetzel – sie zeigt die „Täterin“ in einem fast intim wirkenden Moment des Erschreckens. „Ich nehme das Gemetzel nicht so ernst“, sagt die Künstlerin, „diesen Moment aber schon: Sie ist im Erledigungsmodus, dann folgt das Erkennen und Erschrecken. Brutalität, vermischt mit Humor, ich mag das.“ Physische Gewalt als Übersetzung von Stress.
Wie würde sie selbst ihren Stil beschreiben? Die 36-Jährige überlegt, sagt dann: „Man könnte sicher so was schreiben wie: Verweigert sich der klassischen Ästhetik der Comics. Hat man auch schon.“
Ihre Geschichten findet Jul Gordon zum Teil in ihren Träumen – „Das muss ich dann nur noch umsetzen“ –, manches im Alltag. So gibt es die eingangs erwähnten Fragen, die Psychiater Tim seinem Patienten stellt, auch in Wirklichkeit: „In der psychiatrischen Praxis gibt es diese Fragebögen, ich weiß das von einem Freund.“
Für Gregor Straube ist das vor allem Kunst, die ganz wunderbar in sein neues Domizil passt, das seit 2017 seinen Standort in der Bahnhofsvorstadt hat – zuvor hatte er auch schon in der Neustadt einige Grafik- und Comic-Ausstellungen junger internationaler Künstlerinnen und Künstler gezeigt, „da mussten wir aber leider raus“. Er wolle Künstler und Werke ausstellen, die man sonst in Bremen nicht sieht, sagt Straube: „Ich will die Besucher herausfordern.“ So wie mit Jul Gordon und Émilie Plateau. Erstere hat er auf einem Festival kennengelernt: „Mich hat die Ästhetik sehr angesprochen, dieses sehr fragile, mit viel Raum und ein bisschen schräg.“ Zeichnerisch gebe es einen großen Kontrast zu Plateau, die mache klare Linien. Aber: „Das passt schon sehr gut zusammen.“
Die Belgierin Émilie Plateau hat gerade einen Band bei Dargaud verlegt, ein sehr großer Erfolg. Auch sie sieht sich als Erzählerin, sagt über sich: „Ich halte mein Ohr auf, ich telefoniere, ich beobachte, ich registriere, ich schreibe ab.“ Ihr Zeichenstil wirkt vielleicht etwas eingängiger, aber niemals beliebig. Das würde auch nicht passen, in diesen Raum 404.
Ausstellung bis 23. März, Raum 404, Nicolaistraße 34/36
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