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Archiv-Artikel

Zeit der Zyniker

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Wer das Volk gegen sich aufbringt, aber die Macht will, muss die demokratischen Rechte beschneiden

Peter Frey, Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios, hat sich für das „Sommerinterview“ mit Angela Merkel ans Ende eines Bootssteges in Vorpommern gestellt und fragt: Werden Sie hier von den Wählern in Ihrem Wahlkreis nicht immer wieder auf Stoibers Äußerung über die frustrierten Ostdeutschen angesprochen? Frau Merkel, ganz cool: Die Wähler sprechen mich hier auf ihre ganz persönlichen Sorgen an und so weiter, blablabla …

Dann gehen Frey und Merkel ganz langsam auf dem Bootssteg in Richtung Ufer, auf die Kamera zu, die ebenso langsam zurückweicht, um den Abstand zu halten. Alles schön Schritt für Schritt, mit nordvorpommerscher Rasanz; in den Pausen zwischen den Schritten kann man sich als Zuschauer in aller Ruhe Gedanken darüber machen, wie passend es wäre, wenn Herr Frey oder Frau Merkel oder gar beide mit Gekreisch ins Wasser fallen würden.

Die Sonne scheint zum Sommerinterview, die Bilder aus der Boddenlandschaft sind bunt wie aus dem Reisekatalog oder einem Bilderbuch, das „Unsere schöne Heimat“ heißt. Sie haben hier sicher richtig heimatliche Gefühle, sagt Peter Frey. Und Angela Merkel sagt: Ja, hier bekomme ich richtig heimatliche Gefühle.

Die beiden haben noch nicht die Mitte des Bootssteges erreicht, als Frey sich von seinem investigativen Ehrgeiz zu einer Nachfrage hinreißen lässt: Hat Sie Stoibers Äußerung nicht auch persönlich tief getroffen? Merkel: Ich bin stolz darauf, dass ich als Frau aus dem Osten und so weiter, blablabla …

Dasselbe hat sie schon bei Maybrit Illner gesagt, und sie wird es an diesem Sonntag ein paar Stunden später bei Sabine Christiansen wiederholen. Am Ende setzt Frey in nachgerade unbarmherziger Recherchierwut alles auf eine Karte: Wenn Stoiber nun in Bayern bleibt, wird er nicht so etwas wie ein Nebenkanzler sein und Sie ständig stören, wie er Sie jetzt im Wahlkampf stört? Merkel: CDU und CSU werden nur gemeinsam die Probleme dieses Landes, blablabla und papperlapapp …

Die schlechte Qualität der Politik und der Medien bedingen sich gegenseitig in diesem Land. Im Wahlkampf wird nur deutlicher sichtbar, dass das Berlusconi- Syndrom, in Italien ein Produkt aktiv betriebener, mafioser Medien-Gouvernementalität, sich in Deutschland schleichend, unauffällig und über die Aufweichung der Strukturen: die Grenzen zwischen Politik und Medien lösen sich endgültig auf.

Ein wichtiges Nebenprodukt dieses Syndroms sind grauenvolle Interviewrituale. Nicht nur der Fragesteller weiß, wie der Befragte antworten oder vielmehr nicht antworten wird, sondern auch der Befragte weiß, dass der Fragesteller nur solche Fragen stellt, von denen beide wissen, dass weder die Frage noch die Antwort einen Sinn ergeben, mit dem der Verbraucher etwas anfangen kann. Ein zynisches, wenn auch ziemlich langweiliges Spiel. Ein mieses, wenn auch ziemlich lächerliches Kartell eingebildeter Macht.

Quält sich der Mediennutzer, wenn von Politik die Rede ist, schon in normalen Zeiten durch ein Gebirge ewig wiederholter Phrasen, so triumphiert im Wahlkampf die ewige Wiederholung der Nullbotschaft – eine von allen Beteiligten mit erheblichem Aufwand betriebene Olympiade der wortreichen Desinformation. Das System funktioniert von Glos und Kauder über Müntefering, Claudia Roth und Westerwelle bis zu Lafontaine, nur Gysi spielt gern den Kasper und fällt rhetorisch bisweilen etwas aus dem Rahmen.

Lehrreich ist das Entsetzen, das alle Sprechwerkzeuge lauter und heftiger klappern lässt, wenn einer der Matadoren unverhofft einen authentischen Satz von sich gibt. Wenn eine unerwartet klare Äußerung für den Moment eines Blitzeinschlags das ganze Gelände erhellt und das Gestrüpp aus Ressentiments und Machtkalkül, Ideologie und vordemokratischer Gesinnung zur Besichtigung freigibt. Von „Pannen“ sprechen dann die Wahlkampfbeobachter, anstatt dankbar dafür zu sein, dass ihnen Stoiber oder Schönbohm mit ihren Ausfällen gegen die „frustrierten“ oder „proletarisierten“ Ostler ein Licht aufgesteckt haben.

Denn Stoiber hat ja Recht: Eine wachsende Zahl von Bundesbürgern, nicht nur in den neuen Bundesländern, ist von den sieben Jahren sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik nachhaltig frustriert. Und ihm schwant zu Recht, dass sein eigenes Wahlprogramm bestens geeignet ist, die Frustration zu vertiefen. Wer das Volk gegen sich aufbringt, aber an der Macht bleiben oder sie erlangen will, muss nach Mitteln Ausschau halten, um die demokratischen Rechte zu beschneiden.

Stoiber ist zu klug, um nicht zu wissen, dass er den frustrierten Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Rentnern und Niedriglohnverdienern indirekt das Wahlrecht abgesprochen hat – gleichzeitig ist er klug genug, um zumindest zu ahnen, dass sich das Dreiklassenwahlrecht aus der Rüstkammer des sterbenden Feudalismus nicht mehr wiederbeleben lässt.

Ins Weltbild derer, die sich heute Modernisierer nennen, passt es durchaus. So schamlos wie in diesem auch intellektuell dahinsiechenden Land wird vermutlich in keinem anderen von „Losern“, „Versagern“ und „zu kurz Gekommenen“ geredet, von denen, die bei dem geforderten Tempo „nicht mitkommen“, weil sie (dies ist die mitschwingende Konnotation) entweder schlecht ausgebildet, also einfach dumm, oder schwer beweglich, also stinkend faul sind.

CDU und CSU werden nur gemeinsam die Probleme dieses Landes, blablabla und papperlapapp …

In der süßlichen und besonders geschmackvollen Variante sind es diejenigen, die „mitgenommen“, womöglich „an die Hand genommen“ werden wollen, um zu begreifen, warum sie über Deregulierung und Flexibilisierung, soziale Unsicherheit und Ungerechtigkeit begeistert sein sollen. Knallhart bringt es in dieser Woche der Spiegel auf den Punkt: Die Gesellschaft differenziere sich aus „in Gewinner und Verlierer, in Flexible und Faule, in Nostalgiker und solche, die der Zukunft zugewandt sind“.

Die Karriere solcherart zynischer Denk- und Redeweisen belegt übrigens besonders eindrucksvoll die inzwischen unentwirrbare Komplizenschaft zwischen Politik- und Medienbetrieb. Es ist nicht mehr zu rekonstruieren, welcher ideologischen Garküche das rhetorische Gebräu entstammt: den politischen Stäben um Hartz/Clement/ Westerwelle – oder dem liberalen, wenn nicht gar „linksliberalen“ und grün gefärbten Feuilleton.

Denn das Verrückte ist: Gerade die ehemals an der postmodernen Spaßgesellschaft erkrankten Schöngeister bekunden um so hysterischer, dass sie mit den „Verlierern“ nicht verwechselt werden wollen, je klarer ihnen wird, dass sie in der Ökonomie der „Sieger“ kaum Chancen haben. Wenn ein Redakteur, der nicht weiß, ob nicht schon morgen sein Arbeitsplatz wegrationalisiert oder -fusioniert sein wird, vom Segen des globalisierten Kapitalismus faselt, offenbart sich die ganze Tragikomik der heute tonangebenden Schriftstellerei.

Wir kultivieren einen neuen Zynismus, eine „frühkapitalistische Form des Umgangs“, sagt Oskar Negt in derselben Spiegel-Nummer, in der wir alle in Sieger und Verlierer aufgeteilt werden und gleichzeitig die Wiederkehr von Karl Marx heraufbeschworen wird.