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Challenges in den Online-NetzwerkenDon't believe the hype

Maxime Weber
Kommentar von Maxime Weber

Gefährliche Internettrends wie die „Bird Box Challenge“ sorgen regelmäßig für Aufruhr. Allerdings wird ihr wahres Ausmaß oft aufgebauscht.

Auf Blindgang: Sandra Bullock im postapokalyptischen Netflix-Streifen „Bird Box“ Foto: ap

R ein filmisch gesehen ist der Netflix-Streifen „Bird Box“ kaum der Rede wert. Der Plot wirkt so, als ob er mit einem Baukasten für postapokalyptische Geschichten zusammengestellt worden wäre: Eine Frau namens Malorie (gespielt von Sandra Bullock) sucht mit ihren Kindern nach dem Weltuntergang ein Refugium und muss sich dabei vor übernatürlichen Wesen in Acht nehmen, deren Anblick Menschen in den Suizid treibt.

Und auch die auf Papier spannend klingende Idee, die Protagonistin und ihre Sprösslinge aus Schutz vor den Kreaturen mit Augenbinden durch die Ruinen der menschlichen Zivilisation tapsen zu lassen, dient im Film bloß als Stoff für ein paar lahme, sturzreiche Verfolgungsjagden durch den Wald.

Trotzdem hat „Bird Box“ in den ersten sieben Tagen nach seiner Veröffentlichung 45 Millionen Aufrufe verzeichnen können und für großen Aufruhr in den Online-Netzwerken gesorgt. Manche Twitter-Nutzer mutmaßten deswegen schon, dass Netflix selbst Bots benutze, um die unzähligen Memes zum Streifen in Umlauf zu bringen – was sich aber als falsch herausstellte.

Allerdings lagen sie mit ihrer Kritik am Streamingdienst nicht ganz daneben, einen mittelmäßigen Film mit dubiosen viralen Marketingstrategien pushen zu wollen. Das zeigt die Affäre um die sogenannte „Bird Box Challenge“, die den Hype um den Film in den letzten Tagen noch einmal befeuert hat.

Bei dieser Mutprobe nehmen sich vor allem junge Menschen dabei auf, wie sie mit verbundenen Augen durch die Gegend laufen – was wenig überraschend für gefährliche Situation sorgt. Sie posten das Ergebnis dann online. Mittlerweile hat der Trend angeblich dermaßen bedenkliche Ausmaßen angenommen, dass Netflix sich dazu genötigt sah, einen Tweet zu veröffentlichen, in dem das Unternehmen seinen Nutzern davon abrät, an der „Bird Box Challenge“ teilzunehmen.

Medien als ungewollte PR-Handlanger für Firmen

Pikant an der ganzen Sache ist jedoch, wie die britische Nachrichtenseite iNews hervorhebt, dass die Suchanfragen für „Bird Box Challenge“ erst nach dem Netflix-Tweet in die Höhe geschnellt sind. Davor gab es nur vereinzelte Twittervideos mit dem Hashtag. Viele Medien – darunter SPON und die „Tagesschau“ – haben den Tweet von Netflix trotzdem mehr oder weniger kritisch als Beweis für die angebliche Existenz dieses Phänomens übernommen und dadurch die Hysterie weiter gefördert.

Den gleichen Eskalationszyklus – vereinzelte Vorfälle gefährlicher Internetmutproben werden von den Medien zu einem Trend aufgebauscht, wodurch die Leute in bester „Werther-Effekt“-Manier erst anfangen, sich tatsächlich in Gefahr zu begeben – durchlief auch die berühmt-berüchtigte „Tide Pod Challenge“ vor ziemlich genau einem Jahr.

Wie der YouTube-Kanal The Film Theorists in einem Video zum Thema beleuchtet, wurden damals eine Handvoll ironischer Tweets und Videos, in denen Menschen Waschmittel verzehrten, von großen US-Medienhäusern wie CNN, NBC und Fox News als Zeichen einer landesweiten Epidemie gedeutet. Die unreflektierte Berichterstattung wiederum sorgte dafür, dass die Anzahl an hochgeladenen Videos, in denen Menschen sich dem fragwürdigen Genuss von Waschmitteln hingeben, von 242 (in fünf Wochen) auf zeitweise 300 (pro Tag) anstieg.

Das allein ist schon hoch problematisch. Bei der „Bird Box Challenge“ kommt nun noch hinzu, dass das wie immer sehr internetversierte Netflix diesen medialen Eskalationszyklus offensichtlich zu Werbezwecken genutzt hat – und viele (Online-)Journalist*innen glatt drauf reingefallen sind. Daraus lässt sich lernen.

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Maxime Weber
Mitarbeiter taz.de
Studiert Philosophie und hat eine Schwäche für alles, was mit Science-Fiction, Fantasy, Katzen und Synthesizern zu tun hat. Dazu betreibt er seit 2011 einen Blog über die rechte Szene in Luxemburg.
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3 Kommentare

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  • Absolut erstaunlich, wie bescheuert Leute sein können. Mit verbundenen Augen durch die Gegend laufen.

  • Den Vorläufer von dubiosen viralen Marketingstrategien kennen wir doch schon lange. Unsere Nationalspieler, die uns einen mittelmäßigen Brotaufstrich schmackhaft machen wollten.

  • Ist schon lange zu beobachten. Journalisten versuchen die Social Media Aktivitäten in die Berichterstattung einzubauen bzw. als Indikator zu verwenden. Bei Twitter z.B. geht man täglich von ca. 0,6 Mio. aktiven Nutzern in Deutschland aus. Wenn noch zusätzlich berücksichtigt, dass gesellschaftliche Milieus entweder über- bzw. unterrepräsentiert sind, besitzt Twitter in Deutschland keine repräsentative Signifikants!