: Obszönität und Verlockung
Die Systeme, mit denen der öffentliche und der private Raum überwacht werden, sind außerordentlich perfekt und gefährlich: Julia Schers Arbeit „Wonderland“, zu sehen bei Esther Schipper, ist aktueller denn je
Von Tilman Baumgärtel
„Entweder musste der Brunnen sehr tief sein, oder sie fiel sehr langsam; denn sie hatte Zeit genug, sich beim Fallen umzusehen und sich zu wundern, was nun wohl geschehen würde.“ So beginnt die Reise von Lewis Carrolls Alice, die einem weißen Hasen in sein Loch folgte und sich im Wunderland wiederfand.
Auch die Arbeit „Wonderland“ der amerikanischen Künstlerin Julia Scher, die derzeit in der Berliner Galerie Esther Schipper zu sehen ist, hat inzwischen eine längere Reise hinter sich: Vor zwanzig Jahren wurde sie zum ersten Mal gezeigt, und was seither geschehen ist, ist auf jeden Fall Anlass zum Wundern. Die Installation ist seit 1998 eigentlich nur noch aktueller geworden.
Zwei Kinderschreibtische, auf denen inzwischen historische Computer stehen, sind der Mittelpunkt der Rauminstallation. An den Wänden Zerrspiegel wie auf dem Rummel, unter der Decke Scheinwerfer und Überwachungskameras. Alles ist in unheimliches, blaues Licht getaucht. Aus Lautsprechern tönt „White Rabbit“ von Jefferson Airplane als musikalische Referenz ans Wunderland, gemischt mit Aufnahmen der Künstlerin, die einen von ihr umgeschriebenen Dialog zwischen Alice und der Königin aus Lewis Carolls Roman spricht.
Kaubonbons der Marke White Rabbit Creamy Candy gibt es auch – alles ziemlich genau wie bei der ersten Präsentation in der Galerie Andrea Rosen vor zwei Jahrzehnten. Die Arbeit sollte einen „smarten“ Raum evozieren, lange bevor uns das Internet der Dinge, Alexa und Siri umsorgten und wir für unsere Bequemlichkeit mit unserer Privatsphäre zu bezahlen begannen.
Die Obszönität, aber auch die Verlockungen der Überwachung haben die heute 64 Jahre alte Julia Scher seit Beginn ihrer künstlerischen Karriere interessiert. In Performances, Installationen, Web-Arbeiten und Texten betrieb sie ein künstlerisches Projekt, für das sich in ihrer Biografie die schöne und kaum zu übersetzende Formulierung von der „reformulated surveillance“ (umformulierte Überwachung) findet.
Die Überwachung durch Kameras und Aufpasser im öffentlichen Raum stellte sie zwar einerseits als bedrohliche Eingriffe in unsere Privatsphäre dar. Andererseits genoss sie es bei öffentlichen Auftritten in Wachmannuniform sichtlich, mit Handschellen und Schlagstock Aufsehen und Verunsicherung auszulösen. In der Installation drehen Bilder von Kindern in den rosa Uniformen von Schers imaginärem Überwachungsunternehmen „Security by Julia“ die angemaßte Autorität vollkommen ins Absurde. (Eins der Kinder ist übrigens Lena Dunham, später bekannt aus der Fernsehserie „Girls“.)
„Die modernen Systeme, mit denen heute der öffentliche und erst recht der private Raum überwacht wird, sind außerordentlich perfekt und außerordentlich gefährlich, und die wenigsten, die sich in diesen überwachten Räumen bewegen, sind sich dessen überhaupt bewusst“, hat Julia Scher 1994 dieser Zeitung und diesem Autor mitgeteilt.
Seither hat sich in Sachen Überwachung freilich einiges getan: Die Spionagekameras sind inzwischen vernetzt und längst nicht mehr das größte Problem. Seit den Snowden-Enthüllungen wissen wir, dass verschiedene internationale Geheimdienste in unseren digitalen Daten herumstöbern. Als Reaktion auf die Bloßlegung dieser Praktiken wurden diese keineswegs eingestellt, sondern ihre Aufklärung systematisch verschleppt und behindert, bis das allgemeine Interesse daran erloschen war. Das mag auch damit zu tun haben, dass die Überwachung durch amerikanische Geheimdienstprogramme wie Prism oder Boundless Informant – nach allem, was man weiß, immer noch aktiv – so unglaublich weitgehend und technisch so komplex ist, dass man sie sich schlichtweg nicht vorstellen kann.
Dass sie so abstrakt und so wenig anschaulich sind, schränkt auch die Möglichkeiten von Künstlern ein, sich mit ihnen zu beschäftigen. Die Überwachungskameras, mit denen Julia Scher regelmäßig arbeitet, kann man nicht nur sehen, sie liefern auch Bilder. Die Fotografien, die zum Beispiel der amerikanische Künstler Trever Paglen von NSA-Zentralen und anderen Spionagezentralen machte, ließen die Funktion dieser Hightechbauten nicht einmal mehr vermuten. Sie hätten genauso gut Serverfarmen oder Logistikzentren zeigen können. Was sich in ihnen abspielte, war in jedem Sinn un-sichtbar, und die bildende Kunst hat vor diesem Thema inzwischen mehr oder weniger kapituliert, so wacker KünstlerInnen wie Ingrid Burrington, James Bridle oder Paolo Cirio auch versuchen, die Problematik auf der Tagesordnung zu halten.
Da wäre es schon interessant, was Julia Scher, inzwischen Professorin an der Kunsthochschule für Medien in Köln, heute zu dieser Thematik beizutragen hat. Eine Ausstellung mit aktuellen Arbeiten wäre sehr willkommen.
Julia Scher, „Wonderland“. Bis zum 9. Februar in der Galerie Esther Schipper, Potsdamer Straße 81 E
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