Perlen zu einer Landschaft

Die zehnte Ausgabe des Festivals Unknown Pleasures glänzt in diesem Jahr vor allem mit vielen Beiträgen über das ländliche, kleinstädtische Amerika

In „First Reformed“ (Paul Schrader, USA 2017) hadert der Militärpriester Ernst Toller mit der Zerstörung der Umwelt Foto: Arsenal

Von Fabian Tietke

Im Morgenmantel am Küchentisch schreibt sich Diane eine Liste der Erledigungen für den kommenden Tag. Mit unermüdlicher Energie wirbelt die Mittsechzigerin durch die Kleinstadt in Massachusetts, in der sie lebt, besucht eine krebskranke Verwandte im Krankenhaus und bringt Krimis vorbei, fährt einer Bekannten Essen vorbei, um ihr das Leben zu erleichtern, holt eine andere Bekannte mit dem Auto an der Schule ab, fährt sie nach Hause, zurück ins Krankenhaus und dann zum Abendessen mit Freunden. Diane füllt sich ihr Leben allein mit einer endlosen Kette von Hilfsbereitschaft und versucht dazwischen, ihren Sohn vom Rückfall in die Drogenabhängigkeit abzuhalten.

Man merkt „Diane“, dem Spielfilmdebüt von Kent Jones an, dass der Regisseur bislang als Dokumentarfilmer gearbeitet hat. Präzise in den Beobachtungen, unprätentiös in der Inszenierung zeigt er das Leben seiner Protagonistin und die Gemeinschaft, in der sie lebt. „Diane“ eröffnet die aktuelle zehnte Ausgabe des Festivals Unknown Pleasures, in dem Hannes Brühwiler und Andrew Grant Jahr für Jahr Perlen des unabhängigen Films aus den USA präsentieren.

„Diane“ ist gut gewählt als Eröffnungsfilm für eine Festivalausgabe, die stärker als in früheren Jahren von Filmen über das ländliche, kleinstädtische Amerika geprägt ist. Frederick Wiseman widmet sich nach seinem Film über die New Yorker Public Library als Hort des kulturellen Austauschs in Zeiten von Trump nun der Kleinstadt Monrovia in Indiana als beispielhaften Mikrokosmos für das Leben im Kernland der USA.

Kein „Fly over country“, sondern Rituale der Gemeinsamkeit, lebendiges Leben miteinander, Angst vor zu schnellem Wachstum der Einwohnerzahl, obwohl die Steuereinnahmen dringend gebraucht werden, die Beschwörung der Vergangenheit in ihrer Relevanz für die Geschichte der USA und schließlich die Allgegenwärtigkeit von Religion. „Monrovia, Indiana“ ist, wie von Wiseman gewohnt, eine präzise Studie einer Gemeinschaft voller Würde, doch ohne Verklärung und Scheuklappen. Trump und die Konflikte aktueller US-Politik bleiben unerwähnt und sind doch stets spürbar als Hintergrund.

Ein weiterer zentraler Film des Festivals widmet sich dem Leben und den Konflikten in einer Kleinstadt: Dorothea und Greta leiten seit Jahrzehnten die „Bread Factory“, ein Kulturzentrum in einer Stadt nördlich von New York. Mit einem Mal ist nun die Finanzierung durch den Stadtrat infrage gestellt. Patrick Wangs Dyptichon „The Bread Factory“ entfaltet am Beispiel des Kulturzentrums Fragen der Bedeutung von Kultur jenseits der Metropolen und von kulturpolitischen Haushaltsentscheidungen, die den Verlockungen des PR-Sprechs erliegen. Vor allem aber zeigt Wang voller Wärme unzählige Menschen, die in dem Kulturzentrum ihre Nische gefunden haben und wie dieses Miteinander in die Stadt abstrahlt. Die Filme Patrick Wangs im Kino sehen zu können, ist den Erfahrungen mit seinen früheren Filmen nach zu urteilen eine rare Gelegenheit, die man nutzen sollte.

Eine ganze Reihe weiterer Filme erweitert die Perspektiven auf das Leben in den USA jenseits der Großstädte. Paul Schraders neuster Film „First Reformed“ zeigt den ehemaligen Militärpriester Ernst Toller, der in einer kleinen Gemeinde in der Nähe New Yorks mit seinen Mitmenschen und der gedankenlosen Zerstörung der Umwelt hadert. Sechs Jahre nach „Marfa Girl“ hat Larry Clark dem Leben einer Gruppe Heranwachsender in dem Kaff Marfa in der Nähe der mexikanischen Grenze eine Fortsetzung gewidmet. Die ehemals jugendlichen Protagonisten sind älter geworden, doch ihre Aussichten haben sich nicht wesentlich verbessert. Das Festival zeigt neben Clarks aktuellem Film auch den ersten Teil und zeigt so die Beharrlichkeit der Lebensbedingungen im ländlichen Südwesten der USA.

Mit John Sayles grandiosem „Lone Star“ von 1996 verfolgt das Festival diese Linie sogar noch weiter zurück. Der Fund eines Schädels führt einen Sheriff in einer texanischen Kleinstadt zurück in die Geschichte der Stadt. Zum Kinostart des Films schrieb der US-Kritiker Roger Ebert: „Lone Star ist nicht einfach nur über die Aufklärung des Mordes und die Liebesgeschichte. Es ist vor allem ein Film, der zeigt, wie Menschen versuchen, heute in Amerika zusammenzuleben.“ Jedes Jahr öffnet Unknown Pleasures das Schmuckkästchen des unabhängigen Kinos der USA, doch in diesem Jahr ist mehr gelungen: Die Perlen fügen sich zu einer Landschaft. Sand und Staub mögen die Perlen dabei auf den ersten Blick etwas weniger funkelnd erscheinen lassen, doch aus der Nähe sind sie beinahe noch bezaubernder.

Unknown Pleasures, 1. bis 21. Januar 2019, Kino Arsenal und Kino Wolf