Räuber, Gelehrte – eine Stadt

Die britische Historikerin Bettany Hughes hat das ultimative Istanbul-Buch geschrieben. Schwärmerisch legt sie den alten Kosmopolitismus frei

Istanbul – ein Sehnen der Welt? 1958, Galatabrücke Foto: Ara Güler/Magnum Photos/Agentur Focus

Von Ingo Arend

Die „Hauptstadt der Welt“. Gustave Flaubert staunte nicht schlecht, als er 1850 an den Bosporus kam. Den französischen Schriftsteller erinnerte der Besuch an „jenes Gefühl des Zermalmtwerdens, das einen durchdringe, wenn man so viele unbekannte Menschen streift, vom Perser und Inder bis zum Amerikaner und Engländer, so viele getrennte Individualitäten, deren furchtbare Summe die eigene totschlägt“. Istanbul schien Flaubert wie der Vorschein einer multikulturellen Weltzivilisation.

Diese Idee der Vielfalt steht im Mittelpunkt des unglaublichen Buchs von Bettany Hughes. „Unterschiedliche Religionen, Kulturen, Ethnien, alle mit ihren jeweiligen Eigenheiten und Interessen“, schreibt die Bestsellerautorin an einer Stelle ihrer voluminösen Historie Istanbuls, hätten schon Konstantinopel zu einem „hochkomplexen Ort“ gemacht.

Wahrscheinlich hat der Verlag deswegen für die deutsche Ausgabe des Bandes den Titel „Die Biographie einer Weltstadt“ gewählt. Im englischen Original heißt er bescheidener „A Tale of three cities“. Er suggeriert freilich auch, die Geschichte einer Stadt ließe sich wie die Biografie eines Politikers oder Wissenschaftlerin schreiben.

Natürlich wuchsen die Chiff­ren Byzanz und Konstantinopel zu einem Mythos, der ein von den sozialökonomischen Bedingungen seiner Existenz unabhängiges Eigenleben zu führen schien. Und manchmal scheint auch Hughes diesem Mythos zu erliegen, wenn sie von dem „proteischen, fiebernden Charakter“ der Stadt spricht.

Doch die preisgekrönte Wissenschaftlerin, Jahrgang 1967, derzeit Fellow am renommierten King’s College in London, schreibt nicht vom Aufstieg und Niedergang eines Fabelwesens. Sie hat auch keinen geschichts- oder stadttheoretisches Interesse, sondern geht streng chronologisch vor. Mit unfassbarer Akribie, atemberaubendem Detailwissen und langem erzählerischem Atem zeichnet sie in 78 Kapiteln den Weg der Völker, Räuber und Gelehrten nach, die ihre Spuren auf diesem Flecken hinterließen.

Sie schlägt den Bogen von den Hominiden, die 6000 Jahre vor unserer Zeitrechnung in einem prähistorischen Paradies mit 9000 Pflanzensorten lebten über die Auswanderer vom griechischen Festland, die dort im 6. Jahrhundert v.u.Z. die winzige Kolonie Byzantion gründeten.

Bettany Hughes: „Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt“. Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 940 Seiten, 35 Euro

Sie begleitet die römischen Kaiser, die die griechische Siedlung zum „Neuen Rom“ erhoben, den Einfall der Goten und Perser bis zu den Heeren des jungen muslimischen Eroberers Mehmed, der 1453 die Ruine Konstantinopel schließlich seinem Reich einverleibte und Konstantiniyye nannte. Hughes brillantes, von Susanne Held vorzüglich übersetztes Buch, ist ein Paradebeispiel angelsächsischer Nonfiction, wo sich historische Genauigkeit und literarisches Erzählen zu einem einzigartigen Bildungserlebnis verbinden. Herausgekommen ist das ultimative Istanbul-Buch.

Dass der von Barbarenvölkern umgebene Flecken durch die Jahrhunderte ein derartiges Objekt der Begierde war, hatte natürlich seinen Grund. Byzanz war der strategische Knotenpunkt zwischen dem Schwarzen und dem Mittelmeer. Und spätestens seit Kaiser Severus im Jahr 195 n. u. Z. im Zentrum der Stadt das „Milion“ errichtete, ein steinernes Mal, von dem sämtliche Abstände im Römischen Reich gemessen wurden, stieg die Metropole zu dem kulturellen Referenzpunkt zwischen Ost und West auf.

Hughes nennt diese Mutter aller Meilensteine das „Ground Zero der Zivilisation“. „Das Sehnen der Welt“, jenes mythische Synonym, das noch heute für die Stadt benutzt wird, ist ein Nachhall des globalen Geltungsanspruchs, den die „von Meeren umkränzte“ Stadt seitdem in sich trägt. „Wenn es auf der Welt nur ein Land gäbe, Istanbul wäre seine Hauptstadt“, befand selbst Napoleon.

Hughes versteht das Prinzip Vielfalt nicht als Multikultur im heutigen Sinn. Sondern als Folge einer nicht endenden Folge von Regimewechseln. Bei jedem wurden die Menschen zu Tausenden brutal geschlachtet, meist vom Herrscher eigenhändig gepfählt. Keinen Warlord, der die Stadt in 8.000 Jahren Geschichte, umgerechnet circa 320 Menschengenerationen, unter seine blutige Knute zwang, lässt sie unerwähnt.

Aber der Zustrom immer neuer Ethnien, Krieger und Flüchtlinge verwandelte die Stadt langsam in genau das Völkergemisch, das schließlich Flaubert faszinierte. Ob es nun die Warägergarde war, die 6.000 Wikinger, die die byzantinischen Kaiser mit vorgehaltener Streitaxt schützten oder die Janitscharen, die aus Christenknaben vom Kaukasus und dem Balkan handverlesene Leibtruppe des Sultans. Sie erhoben das zum Prinzip, indem sie ethnischen Minderheiten Sonderrechte einräumten.

Sie rekrutierten zudem ihren Hofstaat und die Bürokratie aus allen Teilen ihres weltumspannenden Reichs und schufen so eine multiethnische, „artifi­ziel­le herrschende Elite“. „Die eigentliche Stärke“ der Stadt sieht Hughes deshalb zu Recht in ihrer „Mischlingsnatur“.

Von Barbarenvölkern umgeben, ein Objekt der Begierde

Insofern ist es zwar schade, aber begründet, dass Hughes ihre „Biografie“ am 3. März 1924 enden lässt. An diesem Tag wurde Abdülmecid II., letzter Kalif aus dem Hause Osman, bei Nacht und Nebel außer Landes geschafft. Die Republik des Mustafa Kemal Atatürk machte Schluss mit der Multikultur. Die „moderne“ Türkei verstand sich als ethnisch homogener Nationalstaat. Das verderbte Babel Istanbul wurde in Acht und Bann geschlagen.

Auch die vom Neo-Osmanismus schwer besoffene Diktatur des Recep Tayyip Erdoğan hält an diesem Grundsatz fest. Es wird sich zeigen, ob die Neugier an dem Unbekannten und der Zwang, „uns zu verbinden, zu kommunizieren und uns auszutauschen“, den Hughes als die DNA Istanbuls ausmacht, auf lange Sicht über dessen eisernen Griff auf sein Land obsiegt.

Von dem Nika-Aufstand 523 unter Kaiser Justinian bis zu dem von Gezi 2013 sieht sie eine Kontinuitätslinie, die belegt, dass die Menschen in der Stadt „ein so anhaltendes Desinteresse an ihren Herrschern haben, als sei es ihnen angeboren“. Wenn ihre These stimmt, hätte der Kosmopolitismus dieses „Tors zur Glückseligkeit – so nennen die Istanbuler ihre Stadt – womöglich doch noch eine Chance.