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Wo die Körper über sich hinausgehen dürfen

Immer wieder aufs Neue divers und mit der gebotenen Sensitivität bei Körperpolitiken: Die Tanztage Berlin in den Sophiensælen eröffnen traditionell das Kulturjahr der Stadt

Das Spiel mit dem Fall: Mit Mirjam Gurtners Choreografie „Skinned“ zum Moment des Sicherheitsverlusts werden am Mittwoch die Tanztage eröffnet Foto: Aleks Slote

Von Astrid Kaminski

Geschenke auspacken? Supermarktschlangen zu Silvester? Luxus! Der Tanz macht keine Pause. Im Sommer, wenn alle in die großen Ferien gehen, läuft die Szene bei „Tanz im August“, dem größten deutschen Tanzfestival, auf Hochtouren. Und in den Sophiensælen wird mit den „Tanztagen Berlin“ traditionell gegen den Winterschlaf angetanzt.

Enthusiasten halt, die Tanzleute! Aber auch Pragmaten. Denn die Party zu rocken, wenn alle anderen gerne mal abschalten, sichert natürlich Aufmerksamkeit. Der Tanz, der in Berlin kein eigenes Haus hat, wo er sich übers ganze Jahr austoben kann, stürmt in die Zeitnischen der anderen. Und Anna Mülter, Kuratorin der Sophiensæle, lässt sich am Neujahrsmittag zum Programm befragen. Was bei Mülters handfestem sozialen Impetus jedoch durchaus auch eine Solidaritätsbekundung mit den Kolleg*innen von der Stadtreinigung sein kann.

Bereits zum 28. Mal eröffnen die Tanztage Berlin wieder das Jahr, zum fünften Mal unter dem Kuratorium von Anna Mülter. Überlaufen war dieses Festival, das die neuesten Entwicklungen im Tanz-, Körper- und Bewegungsdiskurs von in Berlin arbeitenden jungen Künstler*innen zeigt, schon immer. Und auch divers: vom HipHop-Ballett über strenge Konzepte zur modischen Beischlafakrobatik, Fitnesswahn, in Bewegung versetzte Stillleben, Selbstfindung mit Tanzstil-Hopping, Wäscheklammer-Musical, von der Lectureperformance im indischen Tanzstil Bharatanatyam zu neuem Ritualtanz, mit Einsprengseln von Athener Anarcho-Kultur oder Teheraner Undergroundszene bis zu der ziemlich angesagten Abschlussparty.

Unter Mülter bekam die Diversität allerdings mehr System. Nicht unbedingt in Bezug auf die reine Tanztechnik, viel mehr in der Ausrichtung auf die Aufhebung von gesellschaftlichen sowie ästhetischen Ausschlusskriterien. Die Sophiensæle sind mit Franziska Werner in der Leitung, Joy Kristin Kalu und Anna Mülter für Dramaturgie und Kuratorium, derzeit das feministischste Theater überhaupt in Berlin, und das merkt man auch dem Tanztage-Programm an. Fast alle Namen im Programm sind Frauennamen – wobei das nicht unbedingt alles über die Gender der Künstler*innen aussagen muss.

So ist zum Beispiel auch Olympia Bukkakis dabei, die in Berlin für queere Performance-Party-Formate wie „Apokalypse Tonight“ und „Queens against Borders bekannt ist und sich im Tanztage-Stück „Gender Euphoria“ mit der Bedeutung von Drag für nicht-binäre und Transpersonen auseinandersetzen wird. Außerdem tritt sie auch wieder als Party-Host unter dem Motto „Get Fucked“ in Erscheinung und liefert, um die Erwartungen zu diversifizieren, gleich drei Definitionen zur Ansage: „1. Den Körper einer anderen Person in sich aufnehmen. 2. In einen veränderten/erleuchteten Zustand aufsteigen. 3. Eine Aufforderung, sich selbst zu verbessern oder sich aus einer Situation zu entfernen.“

Verbessert wurde in den Sophiensælen auch die Zugänglichkeit. Zwar müssen Menschen mit Gehbeeinträchtigungen immer noch einen nicht öffentlich zugänglichen Aufzug benutzen, dafür werden in diesem Jahr aber an drei Abenden Audiodeskriptionen und eine „Haptic Access“-Tour angeboten.

Die Körper in Bewegung

Tanztage Bei den „Tanztagen Berlin“ präsentiert sich vom 9. bis 19. Januar der choreografische Nachwuchs der Stadt in den Sophiensaelen, Sophienstraße 18. Als Neuerung bei der 28. Ausgabe der Tanztage werden erstmals für ausgewählte Vorstellungen Audiodeskrip­tionen angeboten, um diese für blinde und sehbehinderte ZuschauerInnen zugänglich zu machen.

Tickets Der Eintritt zu den Aufführungen kostet 15, ermäßigt 10 Euro. Bei den Partys und Gesprächsrunden der Tanztage gilt freier Eintritt. Info: www.sophiensaele.com

Auch im Hinblick auf die Hintergründe der Künstler*innen ist eine erhöhte Sensitivität im Umgang mit Körpern, die mit Funktionseinschränkungen umgehen, geboten. So hat die Tänzerchoreografin Mirjam Gurtner, die sich in „Skinned“ mit Sicherheitsverlusten beschäftigen wird, mehrere Jahre bei der Londoner Candoco Dance Company, einer hochvirtuosen Vorreiter-Inklusions-Tanzkompanie, gearbeitet. Angela Alves, die 2014 den Verein TURN für Künstler*innen mit multipler Sklerose gegründet hat, erforscht in „Soft Offer“ den „unberechenbaren Körper“, und die aus New York übergesiedelte Perel, die sich selbst als „Künstler_in mit Behinderung“ bezeichnet, spürt unter Publikumsbeteiligung dem Machtverhältnis von Pflegenden und Gepflegten nach.

Da die Tanzdiskurse seit den späten Neunzigern immer mehr philosophisch und soziologisch aufgeladen wurden, ist auch thematische Zugänglichkeit ein Anliegen der Sophiensæle. An sechs Abenden kann über das Erlebte gesprochen werden und den Fragen nachgegangen werden, wo Bewegung aufhört und Tanz anfängt, durch welche choreografischen Methoden sich Systeme und Körper, die immer auch politische und soziale Körper sind, begreifen und vielleicht sogar verändern lassen.

Explizit zur Veränderung ruft außerdem die Tanztage-Alumna Kareth Schaffer auf. Im choreografierten Gespräch „Dancing against the far right“ werden im Tanzkontext entwickelte Formen von Solidarität und Widerstand auf ihre soziale Anwendbarkeit hin untersucht. Trotz der klar gesetzten sozialpolitischen Ausrichtung soll es jedoch auch Platz für Körperpoesie, Mimikry, narrative Prothesen und andere Settings geben, in denen, wie Anna Mülter es nennt, „Körper über sich hinausgehen können“.

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