: Wenn der Garten wieder blüht
Zehn Monate nach dem Attentat mit dem Nervengift Nowitschok sucht die westenglische Stadt Salisbury noch immer nach Normalität
Aus Salisbury Daniel Zylbersztajn
Für eine Pause mit einer selbstgedrehten Zigarette hat sich Robin auf die Parkbank gesetzt. „Ich warte hier, weil die Stadtbücherei noch nicht aufhat“, sagt der Mittfünfziger. Hat er keine Angst, dass er vielleicht genau auf der Bank sitzen könnte, auf der Sergei und Julia Skripal am 4. März 2018 bewusstlos aufgefunden wurden, nachdem sie dem Nervengift Nowitschok ausgesetzt waren?
Vater und Tochter überlebten den Anschlag seinerzeit nur knapp. Die britische Regierung beschuldigte Russland, dass es mit dem Nervenkampfstoff den ehemaligen Spion Skripal habe töten wollen – größere diplomatische Verwerfungen waren die Folge.
Die Skripals waren nicht die einzigen Opfer, auch ein Polizist wurde vergiftet. Und im Juni starb die 44-jährige Dawn Sturgess, Mutter dreier Kinder, im Krankenhaus von Salisbury. Zusammen mit ihrem Partner hatte sie zuvor ein Fläschchen gefunden, dessen Inhalt sie für Parfüm gehalten hatte und bei dem es sich stattdessen um ein Überbleibsel des Anschlags gehandelt haben soll. Nach den Ermittlungen der Polizei hätte das Gift in der Flasche Tausende Menschen töten können.
„Was?“, ruft Robin jetzt, „das hier ist die Bank?“ Er springt auf, entfernt sich mit einem großen Satz. Er kommt aus dem Umland von Salisbury und wusste nicht, dass die Skripals nach ihrer Vergiftung in diesem Park gefunden worden waren. Aber es gibt keinen Grund zur Aufregung, es ist gar nicht die Bank.
„Das britische Militär hat alles hier ausgegraben und entfernt“, erzählt Richard Wheeler, 61 Jahre alt. Er ist Besitzer eines Stoff- und Textilienladens, in dem es feine Gardinen und Tapeten gibt. Die Bank, auf der die Skripals saßen, befand sich genau vor seinem Laden. Wheelers Laden war danach aus Sicherheitsgründen wochenlang geschlossen. Das Attentat, erzählt er, habe ihm das lukrative Frühjahrsgeschäft genommen.
Als man ihm zunächst gestattete, über die Hintertür wieder in seinen Laden zu gehen, kamen nicht nur einige Kund*innen sondern auch Journalist*innen – ebenfalls über den Hintereingang und mit polizeilicher Sondererlaubnis. „Der lokale TV-Sender machte sogar eine Dokumentationssendung nur über meinen Laden“, erzählt Wheeler. Mittlerweile erinnert draußen nur die Rasenfläche, auf der das Gras etwas spärlicher als im Rest des Parks wächst, an die Vergiftung der Skripals.
Wie haben die Ereignisse die 45.000-Einwohner-Stadt verändert? „Der Vorfall hat die Gemeinschaft enger zusammengebracht“, sagt Wheeler. Aber die Stadt kämpft bis heute mit einem tiefgehenden Gefühl der Verunsicherung – und mit den wirtschaftlichen Folgen.
Die Besucherzahlen sind stark eingebrochen. Im Stadtzentrum ist die berühmte historische Kathedrale an diesem Montag Anfang Dezember kaum besucht. Dass das Original der Magna Charta, das britische Grundgesetz aus dem Jahr 1215, das hier normalerweise zu bestaunen ist, ausgerechnet jetzt wegen Restaurierungsarbeiten nicht zu besichtigen ist, hilft dem Salisbury-Tourismus auch nicht gerade.
Am Bahnhof wartet der Touristenbus zum nahegelegenen Stonehenge gegen Mittag vergeblich auf Fahrgäste. „Wegen des Nowitschok-Vorfalls sind insgesamt 14 Geschäfte zugrunde gegangen“, sagte die zuständige Stadträtin Paula Church der Lokalzeitung. Viele Läden müssten 2018 mit Umsatzeinbußen bis zu 80 Prozent klarkommen. Von der Regierung bekam die Stadt eine Finanzhilfe von 3,2 Millionen Pfund, dazu noch mal 1,5 Millionen Pfund Unterstützung vom Landkreis.
Insgesamt neun Stellen, „Hot Spots“, hatten die Ermittler in Salisbury bestimmt, die aufwendig dekontaminiert werden mussten. Anfang November konnte das italienische Restaurant „Zizzi“ wieder eröffnen, in dem die Skripals am Tag ihrer Vergiftung gegessen hatten. „Die gesamte Inneneinrichtung wurde vollkommen erneuert“, erzählt Manager Joe Pegg, 28. Er blickt auf ein neues Neonlichtschild, ein rosa Herz mit den Worten „Wir lieben Salisbury“. „Das ist ein Zeichen unserer Anteilnahme“, sagt Pegg. Langsam gingen die Besucherzahlen im „Zizzi“ auch wieder leicht nach oben.
Zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegt das ehemaligen Haus Sergei Skripals am Ende einer Sackgasse in einer ruhigen Wohngegend. Hier gehen die Dekontaminierungsarbeiten noch immer weiter. Polizeibeamte bewachen das Haus und checken die Identität aller, die sich dafür interessieren. Nein, sie sei nicht besorgt, sagt eine Anwohnerin. „Alles ist beim Alten. Hier bei uns gilt das Motto – get on with it.“ Beim Weggehen ruft sie noch: „Kommen Sie wieder, wenn mein Garten blüht.“
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