Katrin Seddig Fremd und befremdlich: Wir müssen uns selbst in Demut üben, weil das Leben es gut mit uns gemeint hat
Katrin Seddig ist Schrift-stellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Zu keiner Zeit fällt mir die Ungerechtigkeit mehr ins Auge, als in der Zeit vor Weihnachten. Ich steige zweimal die Woche am Jungfernstieg aus, um in ein Büro zu gehen. Ich sehe die Menschen durch die Stadt spazieren, die Taschen voller Einkäufe. Sie stehen mit ihren Freunden, ihren Arbeitskollegen, trinken Glühwein unter Heizpilzen. Im Alsterhaus gibt es „Styles für die Festtage“, und die Preisschilder schrecken die Leute gar nicht, die sich hier umschauen. Ich sehe mir die Kleider auch gerne an und seufze und manchmal, wenn ich Geld habe, kaufe ich mir sogar eines. So bin ich wie alle, ein Mensch mit unnötigen Wünschen und Begehrlichkeiten, weil ich das Nötige schon habe.
Aber direkt vor den Kaufhäusern sitzen die Menschen in der Kälte und betteln. Apathisch nicken sie mit dem Kopf, oder lächeln auch freundlich. Wenn ich nach Hause fahre, dann laufen sie durch die Bahn und sagen ihren Spruch und halten ihre Hand auf. Es gibt einen, der bekommt immer Geld, der kommt sehr demütig rüber, vielleicht ist er es, vielleicht hat er auch nur rausgefunden, dass es gut ankommt. Dann gibt es einen, der ist in Lumpen und barfuß, er riecht nicht gut und kommt so nah heran, dass die Leute ihm Geld geben, damit er endlich weggeht. Das ist auch eine Strategie, aber kann davon überhaupt die Rede sein, wenn es einem so geht? Manchmal glaube ich ein höhnisches Lächeln in seinem Gesicht zu sehen, weil er den Abscheu in den Gesichtern der Menschen sieht, und die Furcht.
Die Menschen ekeln sich und fürchten sich und fühlen sich belästigt, in ihren eigenen Leben, und auch mir sind solche Gefühle nicht fremd. Es ist ein gesellschaftliches Problem, will ich mir einreden, und das ist es ja auch, es ist mit einem Euro nichts gebessert. Es dürfte Obdachlose gar nicht geben in einer Gesellschaft, die so reich ist. Und gibt es nicht Möglichkeiten, auch für die, die kein Geld verdienen können? Gibt es nicht Hartz IV? Und viele arme Menschen leben ja so, in Wohnungen, die das Amt bezahlt. Sie haben eine Dusche und ein Bett. Immerhin. Warum sind Menschen also obdachlos?
Weil sie keinen Anspruch auf Hartz IV haben. Weil sie nicht schaffen, einen behördlichen Brief zu öffnen. Weil sie sich einfach nicht um sich kümmern können. Sie sind aus unterschiedlichen Gründen dazu nicht in der Lage, und wenn sie jeden Tag die Menschen mit ihren Weihnachtseinkäufen sehen, mit ihren vom Glühwein geröteten Wangen, dann muss ihnen dies ständig vor Augen stehen. Sie haben es nicht geschafft. Sie können nicht, und manchmal wollen sie auch gar nicht, weil sie sich fürchten, weil sie ahnen, dass sie es nicht können, und weil es besser ist, zu sagen, ich will nicht, als ich kann nicht. Dafür Verständnis aufzubringen, fällt vielen Menschen schwer. Ich sehe das an diesen starren, kalten, geradezu hasserfüllten Blicken der Menschen in der U-Bahn, wenn sie einen Bettelnden nicht sehen wollen. „Ich geb’nichts, ich hab’nie was gegeben und ich werd’auch nie was geben“, sagt eine alte Dame zu zwei anderen alten Damen stolz in der U-Bahn. Beifälliges Nicken.
Was bietet ihnen nun Hamburg an, diese prächtige und stolze Stadt? Ein „staatliches Angebot zur Gefahrenabwehr bei kalten Tagen mit frostigen Nächten“, das Winternotprogramm. Es ist gut, dass es diese Möglichkeit gibt, dass Menschen wenigstens in der Nacht einen warmen Platz finden können. Dennoch übernachten immer noch Menschen auf der Straße. Auch dieses Jahr starben schon Menschen in der Kälte. Und tagsüber ist es auch kalt.
Es muss etwas Besseres, es muss eine andere Art von Großzügigkeit geben, mehr und besser bezahlte Helfer, Unterkünfte, es muss eine Stadt sich nicht nur eine Elbphilharmonie leisten sondern auch Güte. Und wir in der Bahn, auf den Wegen, wir müssen die Taschen voller Euros haben oder wenigstens einen freundlichen Blick ohne Hass, einen heißen Kaffee, ein paar nette Worte. Wir müssen selbst uns in Demut üben, weil das Leben es gut mit uns gemeint hat. Frohe Weihnachten!
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