: Von MeToo zu YouToo
Der Neue Circus hat es in Berlin nicht leicht. Der Regisseur Wojtek Klemm versucht sich an der Etablierung
Von Astrid Kaminski
Rache ist selten süß. Meist ist sie vor allem bitter. Als dialektisches Prinzip eher uninteressant, beschäftigt sie mit ihren menschlichen (und auch göttlichen) Abgründen das Theater jedoch seit seinen Anfängen. Im variablen Modultext „Truth Box“ der Theaterautorin Meriam Bousselmi nun rächt sich eine Frau an der Männerwelt und nennt es eine Widerstandsbewegung.
Aus MeToo wird YouToo: Männer werden gedemütigt, begrapscht und vergewaltigt. Mal aus einem sich naiv gebendem Affekt im Stil von „toller Arsch“ heraus, mal strategisch geplant durch Toilettenübergriffe mit zwangsverordnetem Viagra: „Manche sind einfach zu süß, um sie nicht zu vergewaltigen. Weihnachtszeit. Wir haben einen kleinen Apollo von 25 Jahren ausfindig gemacht …“
Gut geht es der Rächerin bei ihren Weihnachtsgeschäftsfantasien offenbar nicht. Wojtek Klemm, der „Truth Box“ als Nouveau-Cirque-geprägtes Kammerstück im Dock 11 inszeniert, deutet eine verlorene Existenz an. Torkelnd und rülpsend windet sich die Schauspielerin und Tänzerin Johanna Lemke durch den Monolog ihrer Figur, zuweilen auf dem Rücken ihres Mitspielers, des Luftakrobaten Sasha Krohn.
Ein Sack voller Leid
Krohns Figur wehrt sich nicht. Er hat seine eigene Mission und gibt den von Selbstzweifel gequälten Künstler, der sich die Antikunst-Argumente eines rechtspolitischen Mobs zu eigen gemacht hat: „Ein Künstler taugt zu nichts. Er ist ein Sack voller Leid.“
Dieser Sack baumelt unter vollem Muskeleinsatz mal wie eine Mondsichel, mal in Kopfüber-Pirouetten mit repräsentativ-tänzerischer Beinarbeit in einem Seilakt. Krohn ist Aerial-straps-Experte, und die artistische Virtuosenrolle liegt ihm definitiv besser, als ein performatives Verhältnis zu seiner Figur aufzubauen.
Was Wojtek Klemm hier versucht, ist ziemlich viel und ziemlich wenig auf einmal. Der im Stadttheaterkontext ausgebildete Regisseur knüpft an die französische Tradition des experimentellen, spartenübergreifenden Nouveau Cirque an, der in Deutschland immer noch nicht wirklich Fuß gefasst hat. Auch die Berliner Festspiele setzen ihren diesbezüglichen Fokus bis auf Weiteres nicht fort. Zusätzlich zu dieser nicht leichten Ausgangslage fiel seine Wahl auf das Stück einer Autorin, die – was für den Text vielleicht nicht unwesentlich ist – nach der tunesischen Revolution mehrfach von Salafisten bedroht wurde.
Mit „Truth Box“ von 2013 hat Meriam Bousselmi einen Beichtstuhl menschlicher Verfehlungen im Kontext gesellschaftlicher Zurichtungen geschaffen. Darin gerieten ursprünglich die Besucher*innen in die Rolle der Absolution erteilenden Priesters. Diese Verortung in einer christlichen Szenerie findet sich auch in den Texten selbst wieder: „Ich und die christliche Nächstenliebe, das ist eine alte Geschichte. Das verdanke ich einem meiner Cousins. Der mir im Alter von elf Jahren erklärte, dass, wenn ich ins Paradies kommen wollte, ich mich selbst aufopfern müsse.“ Offenbar steht christliche Bildsprache hier für ein universelles System religiöser Bigotterie und Instrumentalisierung und damit auch für nicht zu übersehende Parallelen mit muslimischen Auslegungen des Islam.
All das einschließlich Live-Begleitmusik ist viel Material. Klemm sucht den Zugang im Stil gelungener Nouveau-Cirque-Werke wie etwa Yoann Bourgeois’ „Celui qui tombe“ über das Parabelhafte, allerdings mit einem ziemlich einordnungsbedürftigen Text. Einordnung aber wird ausgespart. So bleibt es beim aufgesagten Text und dem Seil als allegorischem Prinzip, das an Selbstermächtigungsstrategien des Seil-Bondage versus gesellschaftliche Fesseln denken lässt. In den Seilen hängt und in Fesseln liegt im Leben allerdings vieles.
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