die steile these
: Eltern werden immer älter, aber weniger Eltern

Von Ambros Waibel

Warum ist das Weltall nachts dunkel, wo es doch von Milliarden von Sonnen erleuchtet sein müsste? Vor einer Woche, auf dem Weg zum 80. Geburtstag meiner Mutter, stieß ich im Zug, an meiner Rede feilend, auf diese Frage. Was wir, klärte mich der Philosoph Giorgio Agamben auf, als Dunkelheit des Firmaments wahrnehmen, ist nur Licht, das uns nicht erreicht; strahlende Helligkeit aus fernen Galaxien, die sich aber schneller entfernen, als die Strahlen, die von ihnen ausgesandt werden, uns erreichen können.

Wir schauen ins Dunkel, weil das, was uns erleuchten könnte, immer ferner rückt.

Am Abend, als ich den Festsaal betrat, ging mir die Sache noch im Kopf herum. Dann wurde ich abgelenkt. Denn außer den verbliebenen Familienmitgliedern war unter den Gästen kaum jemand, den ich besser als vom Sehen gekannt hätte. War ich hier richtig?

Ich hatte schon mitbekommen, dass gerade noch in der Woche vor dem Geburtstag meiner Mutter zwei liebe Freunde von ihr gestorben waren; dass die Zeit beständig ihre Opfer gefordert hatte. Wie radikal allerdings sich das Leben meiner Eltern in den letzten fünfzehn Jahren verändert hatte, verstand ich erst jetzt, hier in einem Innenstadtlokal in der Tür stehend.

Vor fünfzehn Jahren hatte mein Vater seinen 70. Geburtstag gefeiert: Ein großes Fest, das nach Wanderjahren alle zusammenführte: die in Pension gegangenen Freunde, Kollegen und Bekannten meiner Eltern – und uns Kinder, die wir nun selbst schon teilweise mit unseren Partnern und Kleinkindern angereist waren. Es war ein Fest zum Ende des Berufslebens der Älteren und eines, das die Kindheit von uns Jüngeren endgültig abschloss.

Alle, die sich vor fünfzehn Jahren versammelt hatten, taten dies in dem Bewusstsein, dass hier etwas zu seinem Ende gekommen war. Gemeinsam feierten sie den Jubilar, mit dem gemeinsam sie gearbeitet und gelebt hatten; und gemeinsam versicherten wir einander, dass nun wir Jüngere dran waren, die Rollen der Älteren einzunehmen, in unseren jeweiligen Berufen, aber eben auch schon als Mütter und Väter. Und gemeinsam gedachten wir der Verstorbenen, der Großmütter und Großväter, die damals auch schon ein Jahrzehnt lang tot waren.

Im Nachhinein scheint mir, dass dieses Fest vor fünfzehn Jahren eigentlich als das letzte gedacht war, eines, wie es seit Jahrhunderten gefeiert worden ist. Denn noch bis ins 20. Jahrhundert hinein galt ein menschliches Leben mit 70 als erfüllt und als im Wesentlichen abgeschlossen.

Und jetzt, 2018, was war jetzt? Etwas jedenfalls völlig anderes. Niemand der hier Anwesenden hatte mich oder meine Geschwister als Kind erlebt; niemand kannte die Wohnung, in der wir aufgewachsen waren, all unsere familiären Konflikte und Freuden gehörten hier nicht her, weil niemand sie teilen konnte. Das war verwirrend und bedrückend; aber es war auch faszinierend neu: Es waren sozusagen nun eine andere Mutter und ein anderer Vater, die hier feierten, ­Zeitgenossen, die aber mit meiner Mutter und meinem Vater nur noch wenig zu tun hatten. Wer hier versammelt war, um meine Mutter zu ehren, die neuen Freunde, Nachbarn vor allem, so sagte es einer meiner Brüder in seiner Rede sehr treffend, sehr radikal, die waren nun „Familie“.

Wer die Statistiken zurate zieht, um dieses Phänomen ein wenig vom Persönlichen wegzuschieben, der kann festhalten: Zwar sind Mütter heute bei der Geburt des ersten Kindes fünf Jahre älter als in den 1960er Jahren, zu deren Ende ich geboren wurde. Die Phase, in der Frauen Kinder ­bekommen, ist aber relativ unverändert geblieben. Das erste Kind kommt zwar später, aber die anderen folgen schneller nach. Die Lebenserwartung hat sich allerdings deutlich verlängert, meine Mutter hat statistisch gute Chancen, noch acht Jahre zu leben. Dann hätten wir – ich bin gerade 50 geworden – 58 Jahre zusammen verbracht. In meinem Geburtsjahr 1968 betrug die Lebens­erwartung von Frauen in Westdeutschland 73 Jahre.

58 Jahre, da kommen wir nun, Sie erinnern sich, auf das Licht zurück, dessen Quelle sich so rasend schnell von uns entfernt. Was meine Mutter und mich – von meiner Warte aus gesehen, an meine Geburt erinnere ich mich glücklicherweise nicht – am intensivsten verbindet, das sind vielleicht acht Jahre bewusste Lebenszeit, von meinem fünften bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr.

In diesen Jahren war sie der zentrale Punkt, um den ich kreiste, mit meinen Freuden, meinen Erfolgen, meinen Sorgen, meinen Ängsten. Danach werden die innigen Momente weniger; in den letzten Jahren bekommen sie noch dazu eine Umkehrung, weil ich es plötzlich bin, der sich Sorgen um sie macht.

Ich muss mich entschuldigen: Wer in meinem Alter die dritte Freundin – oder den ersten Freund – des Vaters kennenlernt, wer seine Mutter nur einmal im Jahr sieht, wenn sie bei ihrer never ­ending Tour um den Weltball kurz Station macht – wer also in weniger traditionellen Strukturen aufgewachsen ist als ich: Für die und für den sind diese Überlegungen ein alter Hut. Dass nämlich die Eltern immer älter und dabei immer weniger Eltern werden, weil die menschliche Fähigkeit, intensive Erinnerungen als gegenwärtig vor sich hin zu projizieren, beschränkt ist.

Und doch bin ich mir sicher, dass auch meine Kinder die natürlich völlig unberechtigte Erwartung an mich haben, dass ich ihr Vater bleibe, auch jenseits der 70, falls ich ein solches Alter erreichen sollte. Und mir geht es jedenfalls derzeit nicht anders. Ich fühle mich nicht so richtig wohl mit der Idee, dass mein Leben von einer harmonischen Dreiteilung in einen Mehrteiler mit zweiter und dritter Staffel übergeht.

Gibt es ein Recht darauf, nicht noch mal und immer wieder von vorne anzufangen? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass die Erinnerungen verblassen und dass wir um sie kämpfen ­müssen, weil die emotionale Intensität der Gegenwart mit unseren Eltern von ihnen abhängt. Weil sie nur unsere Eltern sind und wir ihre Kinder, wenn wir uns erinnern. Weil wir sonst Fremde werden.

Das ungefähr habe ich dann beim 80. Ge­burtstag meiner Mutter gesagt. Von der neuen Fa­milie hat mich niemand auf die Rede angesprochen.