Missverstehen

„Ambiguitätsintoleranz“ nennt man die mentale Abwehr gegen alles, was widersprüchlich oder mehrdeutig ist. Ein Essay über das Missverstehen, anlässlich einer zweitägigen Veranstaltung über Sprache als Handlung im LCB

Wie gut, dass es das Smiley gibt: Piktogramme vereindeutigen Schrift­zeichen, die Viel­deutigkeit mit sich bringenFoto: getty

Von Svenja Flaßpöhler

Das Präfix „miss-“ bezeichnet eine Störung. Es zeigt an: Etwas funktioniert nicht. Ein Ton klingt schief (Misston). Ein Vertrauen wird erschüttert (Misstrauen). Oder eben: Ein Satz, ein Symbol, eine Handlung wird nicht korrekt verstanden. Das Missverstehen ist der Gegenstand dieses Essays. Dessen zentrale Beobachtung lautet: Wir leben in einer Zeit, in der die Sorge, nicht richtig gedeutet zu werden, groß ist. So unternehmen wir viel, um Missdeutungen von vornherein zu vermeiden. Bedeutungsoffenheit wird zunehmend als Zumutung empfunden.

Worum es geht Unter dem Motto „Wörter schlafen nicht – Essays, Gespräche, Performances“ werden sich am Donnerstag und Freitag im Literarischen Colloquium Berlin Autorinnen und Autorinnen zusammenfinden, um in Tandems über Begriffe zu diskutieren, die sie vorab in Essays durchleuchtet haben. Die Grundannahme der Veranstaltung lautet: „Sprache zu verwenden bedeutet zu handeln. Begriffe, Schlagworte, Slogans prägen Wahrnehmung, schaffen Kontexte, setzen Prioritäten, wecken Hoffnungen oder schüren Ängste. Sie werden eingeführt und gebraucht, um Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Ein kleines Wort kann einen ganzen Straftatbestand verändern; eine einzelne Äußerung kann einen Aktienkurs abstürzen lassen.“

Was passiert Am Donnerstag, 29. November, 18 Uhr diskutieren: Lukas Bärfuss (Pygmäe) mit Christina von Braun (Identität); Marcel Beyer (Hooliganmoral) mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Rechtsstaat). Am Freitag, 30. November, 17 Uhr diskutieren: Svenja Flaßpöhler (Missverstehen) mit Dagmara Kraus (Überfremdung); Falko Schmieder (Verbraucher) mit Marlene Streeruwitz (Privat­sache); Isabel Fargo Cole (Politische Korrektheit) mit Bernd Schneidmüller (Gedenken); Deniz Utlu (Vertrauen) mit Lann Hornscheidt (Grenze).

Wo und wie viel: Literarisches Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5. Pro Abend 8/5 Euro. Tickets: www.lcb.de

Beginnen wir mit einem besonders eindrücklichen Beispiel. In einer E-Mail, WhatsApp-Nachricht oder SMS werden Aussagen allzu oft, wie man weiß, durch ein lachendes oder weinendes Gesicht, ein Herz oder auch einen Kothaufen ergänzt. Wenn ich in einer E-Mail Ironie verwende, mir aber nicht sicher bin, dass die Ironie auch wirklich beim Empfänger ankommt, kann ich, um kein Risiko einzugehen, ein sogenanntes Emoji einsetzen – und genau das passiert weltweit täglich millionenfach. Die Piktogramme haben nicht nur den Vorteil, über Sprachgrenzen hinweg verstanden zu werden, sie vereindeutigen zudem Schriftzeichen, die eine hermeneutische Vieldeutigkeit mit sich bringen, und zwar wesensmäßig.

Damit wäre bereits ein entscheidender Grund für den Wunsch, Missverständnisse zu vermeiden, benannt: Das digitale Zeitalter ist ein Zeitalter der schriftlichen Kommunikation. Wo man früher mangels Alternative direkt miteinander sprach oder telefonierte, verwendet man heute Kurznachrichtendienste oder schreibt Mails. Im Medium der Schrift entfallen hermeneutische Hilfestellungen wie zum Beispiel ein ironischer Gesichtsausdruck oder ein Lachen in der Stimme. In einer Kurznachricht entfällt zudem die Ausführlichkeit und meist auch die Sorgfalt.

Foucault hätte seine helle Freude am feministischen Willen zur Transparenz gehabt

Eines von beidem aber, Ausführlichkeit oder Sorgfalt, ist in der Regel mindestens notwendig, um eine Intention im Medium Schrift hinreichend zu verdeutlichen. Doch es wäre verkürzt, würde man die auffällige Tendenz zur Eindeutigkeit allein mit der zunehmenden Verschriftlichung von Kommunikation erklären. Hinzu kommt ein psychischer Aspekt, den der Arabist Thomas Bauer in seinem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ mit dem Begriff „Ambigui­tätsintoleranz“ bezeichnet. Ambiguitätsintoleranz, das meint eine mentale Abwehr gegen alles, was widersprüchlich, os­zil­lie­rend, mehrdeutig ist.

Der Mensch hat, folgt man Bauer, offenbar ein Bedürfnis nach Klarheit: Ein Ding ist entweder A oder B. Eine Person entweder Mann oder Frau. Ein Tier entweder ein Hund oder eine Katze. Alles, was dazwischen ist, irritiert und verunsichert, weshalb in unserer Wahrnehmung sofort ein gewisser Einordnungszwang anspringt. Ein buchstäbliches Schubladendenken, das Michel Foucault bereits in der „Ordnung der Dinge“ als dezidiert modernes Bestreben beschreibt und das nach Thomas Bauer gegenwärtig besonders stark ausgeprägt ist. Die Beispiele, die Letzterer anführt, sind vielfältig. Sie reichen von der Talkshow, in der jeder Gast mit genau einer plakativen These vorgestellt wird, bis hin zum Fitness-Tracker, der hilft, uneindeutige Körpersignale zu quantifizieren. Den besten Beweis für seine These lässt Thomas Bauer allerdings, erstaunlicherweise, links liegen. Gemeint ist jene tautologische Selbst- und Fremdversicherung, die sich in dem Satz „Nein heißt Nein“ oder auch „Ja heißt Ja“ zeigt, den zentralen Slogans heutiger feministischer Bewegungen.

Einmal abgesehen von der – unbestreitbaren – Tatsache, dass Gewalt, handfeste Gewalt, keinerlei Deutungsspielraum lässt: Das derzeitige Bestreben, das gesamte Feld der Erotik zu kartieren, kann als Ausdruck krassester Ambiguitätsintoleranz gelesen werden: Hier die gute Erotik, dort die schlechte. Hier die gewollte, dort die nicht gewollte. Hier Verführung, dort Belästigung. Wo bitte, fragen #Metoo-Aktivistinnen, bleibt noch Raum für Missverständnisse, wenn man Augen im Kopf hat und empathiefähig ist? Als wäre Sexualität, als wären Triebe und Verlangen auf diese Weise zu denken. Als zeigte sich nicht gerade mit Blick aufs Begehren, dass der Mensch selbst ein zutiefst ambivalentes, ambigues, in sich vielschichtiges Wesen ist, aus dem ein Wille spricht, den es oft selbst am allerwenigsten versteht. Besonders frappierend ist, dass die meisten der „Yes ­Means Yes“-Befürworter und -Befürworterinnen ihren Foucault ja durchaus gelesen haben. Der französische ­Philosoph jedenfalls hätte seine helle Freude am feministischen Willen zu Taxonomie und Transparenz gehabt.

Und wer vom Verstehen re­spektive Missverstehen spricht, darf von der Kunst natürlich nicht schweigen. Als „Konstellationen“ hat Eugen Gomringer seine Gedichte einmal bezeichnet. So wie Sterne in Konstellationen zusammen gedacht werden, bilden auch die Elemente eines Gedichts eine Konstellation. Wer in den Himmel schaut, sieht vielleicht einen Großen Bären, vielleicht auch einen Großen Wagen, vielleicht ein Viereck, vielleicht gar nichts. Wer Gomringers Gedicht „avenidas“ liest, erkennt in ihm vielleicht einen Ausdruck der männlichen Hochachtung des weiblichen Geschlechts, vielleicht eine schlichte Aneinanderreihung spanischsprachiger Begriffe, vielleicht aber auch ­Sexismus.

Wegen letztgenannter hermeneutischer Option musste das Gedicht von der Wand der Alice-Salomon-Hochschule entfernt werden. In diesem Umgang mit Kunst zeigt sich ein im Grunde fundamentalistischer Zug, der sich derzeit auch im politischen Diskurs auf besorg­niserregende Weise durchsetzt. So führt das tiefe Bedürfnis nach politischer Eindeutigkeit in weiten Teilen der Gesellschaft zu regelrechten Reinheitsfantasien oder schlichtweg zur Sprachlosigkeit. Das eigene politische Lager wird durch Abgrenzung und, wenn gar nichts mehr hilft, durch hartnäckiges Schweigen bewacht. Man hat sich nichts mehr zu sagen. Man versteht sich nicht. Dieses Nicht-Verstehen geht über ein Missverstehen noch hinaus. Nicht-Verstehen meint: Wir sind in komplett unterschiedlichen Bedeutungssphären unterwegs. Oder, um das Wort zu zitieren, das Markus Söder verwendete, um eine grün-schwarze Koalition kategorisch auszuschließen: Die – Zitat – „Weltbilder“ beider Parteien seien nun einmal unvereinbar.

Womit wir im Kern der heutigen Problemlage angekommen sind, nämlich bei einer vollkommenen Über- und Falschbewertung des Verstehens im menschlichen Miteinander. Verstehen, da war man sich philosophiehistorisch von Hegel bis Gadamer einig, ist nicht ein für alle Mal herstellbar, sondern ein unabschließbarer Prozess. Miss- und Nichtverstehen sind mithin ein gesunder, nicht wegzudenkender Teil demokratischer Auseinandersetzung. Was ich für die absolute Wahrheit halte, ist nur eine Wahrheit für mich, die es daher neu zu denken gilt. So ­Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“. Genau diese Einsicht ist der Motor des dialektischen Prozesses, der jedes Weltbild notwendig aufsprengt.

Doch, und mit dieser Dialektik will ich schließen: Auch die Möglichkeit des Missverstehens kann strategisch eingesetzt ­werden. Wenn Björn Höcke das Holocaustmahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnet und durch die Verwendung des doppeldeutigen Genitivs zwei Interpretationsoptionen eröffnet, ist das ein politischer Schachzug, der es erlaubt, sich im Zweifelsfall auf die harm­losere Variante zurückzu­ziehen. Das Ringen um Deutungs­hoheiten und das Miss­verstehen als Grundzug menschlicher ­Interaktion entlasten uns mithin nicht vom Streben nach ana­lytischer Genauigkeit. Und nach hermeneutischer Wachsamkeit.