: Nicht mehr wegzudenken
Mit der Übernahme des Ballhaus Naunynstraße veränderte Shermin Langhoff vor zehn Jahren das hiesige Theater mit einer kaum fassbaren Wucht. Jetzt wird unter dem Motto „Permanente Beunruhigung“ Jubiläum gefeiert
Von Astrid Kaminski
„Ich frage sie nach der Welt, aber sie haben noch nicht davon gehört“, so heißt es an einer Stelle in Nora Bossongs neuem Gedichtband „Kreuzzug mit Hund“. Die Gefragten: gerade geschlüpfte Engel. Den Unirdischen, zumal den frisch Geborenen, sei ihr Unwissen nachgesehen. Die Irdischen dagegen kommen nicht umhin, sich ihre Ignoranz zuweilen vor Augen führen zu lassen. Das machte die Theater-Intendantin Shermin Langhoff vor zehn Jahren, als sie das Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße zum Theater für postmigrantische Perspektiven erklärte. Plötzlich war da ein Theater, das andere Geschichten zeigte, das sich überhaupt erst einmal der Mission verschrieb, „ein Bewusstsein zu kreieren, dass es diese Geschichten gibt“ – so erinnerte sich die Schauspielerin der ersten Stunde, Sesede Terziyan, neulich.
Ab 2006 hatte Shermin Langhoff bereits das Festival „Beyond Belonging“ am Theater Hebbel am Ufer von Matthias Lilienthal kuratiert. Mit der Übernahme des „translokalen“ Kieztheaters aber veränderte sie in Deutschland die Vorzeichen des Theatermachens mit einer Wucht, die kaum fassbar ist. Der große Durchbruch kam für das Ballhaus Naunynstraße, als Nurkan Erpulat 2010 mit „Verrücktes Blut“ das Stück der Stunde landete. Eine Lehrerin versucht mit vorgehaltener Pistole einer Klasse scheinbar unbeschulbarer Jugendlicher Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nahezubringen.
Zeitgleich erschien das Antimigrationsbuch eines ehemaligen SPD-Politikers, das in Deutschland zum Bestseller werden sollte. Das Ballhaus Naunynstraße, ein Hinterhoftheater, wurde zum Modell des anderen, sich den Herausforderungen transnationaler Biografien stellenden Deutschlands.
Vieles, was in diesem Hinterhoftheater ohne festes Ensemble angestoßen wurde, ist heute aus den öffentlichen Debatten nicht mehr wegzudenken. Ebenso wenig die Namen, die dort zum ersten Mal ins öffentliche Bewusstsein drangen. Regisseure wie Nurkan Erpulat, Prodromos Tsinikoris oder Hakan Savaş Mican, Theaterautorinnen und Performerinnen wie Sesede Terziyan, Nora Abdel-Maksoud, Simone Dede Ayivi. Auch für Autor*innen wie Sasha Marianna Salzmann oder Deniz Utlu und ihr Magazin Freitext war das Ballhaus eine wichtige Station.
Überhaupt Literatur! 2008 gab es in Deutschland neben Pionieren wie Aras Ören, Feridun Zaimoglu, Saša Stanišić, Jamal Tuschick oder Navid Kermani noch kaum eine Sichtbarkeit von Autor*innen, die aus transnationaler oder postmigrantischer Perspektive schrieben. Das ist heute anders. Es bildete sich eine Generation von deutschsprachigen AutorInnen heraus, deren Muttersprache nicht oder nicht allein das Deutsche ist: Neben Salzmann und Utlu gehören unter anderen Tijan Sila, Abbas Khider, Katja Petrowskaja, Olga Grjasnowa, Nino Haratischwili, Fatma Aydemir oder Gerasimos Bekas dazu.
Mit dem Umzug von Shermin Langhoff und einem großen Teil ihres Netzwerks ans Gorki, ein voll subventioniertes Stadttheater, war die Diversitätsforderung in die Institutionenlandschaft eingezogen. Der Begriff des Postmigrantischen blieb am Ballhaus. Dort übernahm der aus dem brasilianischen Belo Horizonte stammende Tänzer und Theaterwissenschaftler Wagner Carvalho 2012, zunächst zusammen mit Tunçay Kulaoğlu, die Leitung. Da die starken Positionen der deutsch-türkisch-armenisch-arabischen sowie teils auch die deutsch-griechischen und neuen jüdischen Perspektiven mit ans Gorki gezogen waren, hatte Carvalho vor allem die Aufgabe, neue Kontexte des Postmigrantischen zu erschließen. Das gelang ihm mit einem Fokus auf Kolonialismusaufarbeitung und postkoloniale Diskurse, mit denen Schwarze und afrodeutsche Realitäten eine neue Sichtbarkeit erhielten.
Dass Carvalho für sein Kuratieren das Wort „entdecken“ vermeidet, weil es kolonial besetzt sei, spiegelt die Konsequenz, zuweilen auch Vehemenz seines Engagements. Ihm im Diskurs hinterher zu sein, konnte konfrontierend sein. Wie viel Aufholbedarf bestand, lässt sich schon allein daran festhalten, dass er noch 2013 in Bezug auf das Festival „Black Lux“ immer wieder betonen musste, dass es sich nicht um ein „Afrika-Festival“ handele. Und daran, dass erst in diesem Jahr mit Anta Helena Reckes „Mittelreich“ erstmals eine Arbeit einer afrodeutschen Regisseurin zum Berliner Theatertreffen, dem deutschen Bühnenolymp, eingeladen wurde. Dabei weisen fast alle Schauspieler*innen-Biografien der an den Münchner Kammerspielen entstandenen Produktion Verbindungen zum Ballhaus Naunynstraße auf.
Nach „Black Lux“ setzten „We are tomorrow“ und „Republik Repair“ weitere große Spielzeitschwerpunkte. Zur derzeitigen zehnjährigen Jubiläumsfeier des postmigrantischen Theaters am Ballhaus Naunynstraße sowie zur Spielzeiteröffnung nach fünf Monaten Umbaupause wagt Carvalho ein Experiment und setzt kein Thema, sondern nur ein Motto: „Permanente Beunruhigung“.
Zu diesem Stichwort treffen sich bis Ende des Jahres internationale Schwarze Künstler*innen und lassen sich vor Publikum auf eine Improvisation ein, die ein Gegenmittel zur aktuellen Ohnmacht angesichts politischer Entwicklungen bieten soll. Die Jubiläumsfeier wird insofern zum neuen Nullpunkt. Alles, was auf der Bühne passiert, entsteht im Moment. Oder auch nicht. Ein Wagnis, für das ein paar Engel als Einflüsterer bestimmt willkommen sind.
Bis 16. Dezember
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